Die Entwicklungsgeschichte einer ungewöhnlichen Frau bleibt also Fragment.
Auch wenn der Titel Martha und Antonia lautet, so handelt der Roman nicht so sehr von Geschwisterliebe als vom bewegten Schicksal Martha Sismondis, die sich aus Armut zur Prostitution gedrängt sieht und über kurz oder lang aus dem Beruf eine Art Berufung macht.
Nach dem frühen Verlust der Mutter setzen der lungenkranke Vater sowie Antonia, Martha und Gustav ihr ärmliches Dasein in einer Einzimmerwohnung fort. Die anderen Geschwister sind entweder tot oder vergessen. Antonia ist die älteste, nichtsdestotrotz übernimmt Martha im Alter von siebzehn Jahren den Haushalt und die damit verbundenen finanziellen Lasten. Ihr einziger Trost ist es, für die Familie zu sorgen: Gustavs Ausbildung, Vaters Spitalskosten und nicht zuletzt des wiedergefundenen Bruders Ludwig Schulden – all das wird von Marthas „Lohn“ bestritten.
Der „berufliche“ Aufstieg in die besseren Viertel Wiens geht einher mit einer unglücklichen Liebschaft Antonias, mit Gustavs Verrat an Martha und dem Tod des Vaters. Der Versuch, den Beruf als „Kontrollmädchen“ für die Stelle einer Arzthelferin aufzugeben, scheitert an Marthas Vergangenheit.
Erst ein zweimonatiger Kuraufenthalt in Südtirol scheint Sonne und Liebe in die mittlerweile gefühlskalte Professionalistin zu bringen. Sie lernt den Warschauer Richter Wladimir Horofsky kennen, gerät jedoch in eine fatale Verflechtung aus Schuld, Lüge und verhaltener Leidenschaft.
Während Antonia im Zahntechniker Erwin ihren Lebenspartner findet, nimmt Marthas Schicksal einen unglücklichen Verlauf, als sie – von Kokain berauscht – in polizeilichen Gewahrsam genommen wird.
Das Leben der Martha Sismondi, immer wieder von Selbstmordgedanken in Frage gestellt, bleibt von Höhenflügen verschont. Im Gegenteil: Das Ende zeigt, daß sie tiefer nicht mehr fallen kann. Ähnlich den Frauenfiguren aus Irmgard Keuns Romanen „Das kunstseidene Mädchen“ oder „Gilgi – eine von uns“ träumt sie zwar von den schönen Seiten des Lebens, ist sich aber der Haltlosigkeit ihrer Wünsche bewußt.
Der Roman lebt von der Einfachheit der Situationsbeschreibungen, die an Sozialstudien jener Zeit erinnern (etwa Adelheid Popps „Jugend einer Arbeiterin“). Darüber hinaus zeichnet sich Else Feldmanns Sprache durch sachliche Direktheit aus. Insbesondere aber die inneren Monologe machen diese Geschichte einer „Gefallenen“ zu einer überaus empfehlenswerten Lektüre.