Nun hat Walton selbst einen Roman vorgelegt, unter dem schrägen Titel Mein Leben ist ein Senfglas. Auch ihre ist eine Erzählung über Verpflanzt-Werden und Heranwachsen, „eine schöne Geschichte der Heimatfindung, aus einem erfrischend neuen Blickwinkel erzählt,“ revanchiert sich Rabinowich: „Die klassische Problematik von Ost und West wird in diesem Roman elegant ersetzt durch die Problematik von West und West.“
Das Mädchen in Spaltkopf musste mit ihrer Familie aus der Sowjetunion fliehen. Damit es sich nicht verplapperte, erzählten die Eltern ihr etwas von einer Urlaubsreise nach Litauen. Auch die neunjährige Poppy Simmons bekommt auf ihre verwirrten Fragen, warum sie mitten im Semester verreisten, und auch noch mit so viel Gepäck, nur ausweichende Antworten: „Urlaub, Abenteuer, neue Freunde. Spiel, Spaß und Spannung.“ Und zum Trost Schokolade und Karamellbonbons. Doch warum weint die Großmutter beim Abschied?
Denkt man an Migration, denkt man an Flucht, Vertreibung, Hunger, Armut, Krieg, an Afrika und Europa, an Asyl und Illegalität. Emily Walton erzählt eine andere, heitere Geschichte der Migration; die Entscheidung ihrer Eltern, auszuwandern, war nicht aus der Not, sondern aus einem Traum geboren. „Ein Job. Ein Haus. Eine Chance.“ Endlich die Möglichkeit eines anderen Lebens, nach der sie viele Sonntage lang in den Zeitungsannoncen gesucht hatten. Und so zogen „der englische Vater, die deutsche Mutter und das verwirrte Kind“ um, und Poppy wurde „das neue Mädchen im Salzkammergut. Die Fremde mit dem Senfglas. Aber keiner fragte nach dem Glas. Keiner fragte nach mir, Poppy Simmons.“
Fragt man Emily Walton, räumt sie ein, Poppys Erfahrungen auf ihre eigenen Erinnerungen gestützt zu haben: „Meine eigene Geschichte, mein Umzug im Kindesalter von England nach Österreich, ist das Grundgerüst. Jede Situation beruht auf einem eigenen Erlebnis, aber es ist sehr stark durch Fiktion verfremdet, um eine bestimmte Botschaft in die Geschichten zu verpacken.“
Es ist eine optimistische Botschaft von der Möglichkeit der Heimatfindung, zu der immer auch Selbstfindung gehört, mag der Weg dahin auch gepflastert sein mit Stolpersteinen und Falltüren, erst recht, wenn man als Heranwachsende im Salzkammergut „noch da Schrift red’dt“, nicht Schifahren kann, nicht katholisch ist, aber Eltern hat, die weder zum Frühschoppen noch zum Eisstockschießen gehen und noch nie für das Pfarrhaus Kuchen gebacken oder für den Bürgermeister Wahlkampf gemacht haben.
„Mit elf musst du cool sein“, stellt Poppy lakonisch fest. „Arm sein ist nicht cool. Anderssein ist auch nicht cool.“ Sie will normal sein. Deshalb borgt sie sich den mit der Raika-Sumsi verzierten Turnbeutel der Freundin, schält die Schokoladenriegel, die ihre Mutter beim Diskonter und nicht im Dorfladen kauft, noch in der Schultasche aus der Verpackung, baut sich Eselsbrücken, um die Beichte durchzustehen – „Keuzzeichen – Sünden bekennen – Danksagen – Kreuzzeichen. – Kein – Schwein braucht – diesen – komischen – Firlefanz“, und deutscht ihren Namen ein – „Sim-mons. Wie der Vorname Simon, nur mit Doppel m. Und s am Schluss.“ Sie ist ein Muster an Integration. Und im Grunde ja gar „keine echte Ausländerin“, wie ihre Freundin Martina sagt, anders als die Jugoslawen auf der Flucht vor dem Krieg oder die Türken auf der Suche nach Arbeit.
Die Autorin Emily Walton ist nicht naiv, und ihre Figur Poppy ist es auch nicht. Ihnen ist bewusst, dass ihre Entwurzelung unter anderen Vorzeichen ganz anders verlaufen wäre. Ohne glückliches Ende. Wir lesen täglich davon in der Zeitung. In dieser Geschiche aber sitzt Polly, erwachsen geworden, mit ihren Arbeitskollegen am Wiener Stammtisch und singt lauthals mit, wenn Rainhard Fendrich singt:
„Do kann ma mochn’n, wos ma wü.
Do bin i her, do ghea i hin…
I am from Austria.“
Sie weiß, da ist sie nicht her. „Die passt halt nicht zu uns“, sagte die Mutter des Jungen, in den sie einen Sommer lang verliebt war. „Die hat nicht mal einen österreichischen Pass. Und keine Wurzeln.“ Entwurzelt und umgetopft nach Wien. Da gehört sie jetzt hin. Denn „es gibt kein Doppelleben nach der Weggabelung. Es gibt nur das Dort, da wir nach da getragen haben, in einem Koffer, in der Erinnerung, in einem Senfglas…“