Daß jedoch ein Stück Literatur, das sich „ganz unmodisch“ („Ein stilles Buch in lauten Zeiten“) gibt, „darum schon wieder kühn“ und gelungen sei, wie es ausgerechnet eines der großen österreichischen Trendy-Magazine den neuesten Prosatexten Mensch, Verwandlungen von Christoph W. Aigner attestierte, ist zu bezweifeln („News“, Nr. 20 / Mai 1999). Denn gerade wer sich auf diese „Naturpoesie gegen Trend und Mode“ („News“) genauer einläßt und ihrem „Atem, ihrer Individualität“ (Thuswaldner) auf die Spur zu kommen bereit ist, wird von kritischen Rückfragen nicht absehen können. Oder, um es vorwegzunehmen: Wer diese Literatur ernst nimmt, wird von ihr ausgesperrt.
Zunächst stimmt, daß Aigners Texte, die man vielleicht als kleine Impressions-Prosa bezeichnen könnte, auf ihre Weise „unzeitgemäß“ sind. Ihre Schauplätze liegen im naturhaften Raum und an entlegenen Orten, „in einem fremden Garten“ oder in einem „abgeschiedenen Dorf“. Sie meiden den hektischen Sog der Städte, den sie durch ihre entschiedene Ausblendung um so mehr als „Gegenort“ begreifen lassen, an dem Kontemplation, Meditation, die Begegnung des „Ichs“ mit sich selbst eher ausgeschlossen scheinen, und wo schließlich auch die körperlichen Sinne Schaden erleiden („Man übt die Nase am besten in den Vormittagsstunden außerhalb einer Stadt“). Ebenso ausgeblendet und damit als Orte tiefgreifender Wahrnehmungsprozesse nicht anerkannt werden die virtuellen Realitäten des sich mehr und mehr um uns ausbreitenden Computeruniversums. So lautet etwa eine dieser siebenundsiebzig „Impressionen“:
Eine schlohweiße Wolke stand über dem blühenden Kirschbaum, als spiegle sich dieser im satten Grau des Himmels. Die Blüten schwirrten wie unreife Schmetterlinge um seine Krone; oder der Baum wurde von der Wolke bestäubt. Wer weiß. Hin und wieder strich eine Krähe das Bild durch, das dann zurückwich und erneut hervorsickerte. Als ob die Natur einmal noch zeigen wollte, zu welcher Schönheit sie fähig ist, und der Amselgesang, der in dem Weiß flimmerte, zum Staunen aufriefe wegen der Unachtsamkeit derer, denen alles selbstverständlich geworden ist und die müde abwinken, selbst wenn ein Obstbaumwald in seiner Blüte auf Zehenspitzen sich über den Fluss bewegte. Dies könne man auch in Computern simulieren. Kein Schauer durchläuft den Bildschirm der Augen, wenn das Geheimnisvolle geschieht, denn es geschieht unspektakulär, sodass wir nichts davon begreifen wollen, solange es uns umgibt, und es erst bemerken, wenn es sich längst aufgelöst hat, wie die blühende Wolke, die kaum mehr zu sehen sein wird.(S. 58f.)
Dieser Versuch der Wahrnehmungssensibilisierung ist ehrenwert, zumal es möglicherweise auch immer ein Zeichen gelungener Literatur ist, das Selbstverständliche bloßzustellen. Aber Literatur deutet die Welt nicht nur, sie konstruiert sie auch, und zwar durch Sprache und deren kritische Reflexion. Dieser Aspekt fehlt den Aignerschen Texten nicht, aber sie tragen ihn oft nicht weit genug, denn trotz der Sprachfalle des „als ob“ ist es doch ziemlich abstrus anzunehmen, daß „die Natur etwas zeigen wolle“. Die Natur will überhaupt nichts (oder höchstens, wie vor Jahren wunderbar provokativ Ulrich Horstmann nahegelegt hat, in Ruhe gelassen werden) und wird eher der Lächerlichkeit preisgegeben, als in Schutz genommen, wenn es zum Beispiel an anderer Stelle heißt: „Wolkengedämpfter Himmel, denn die Tage waren als heiße Bügeleisen übers Land geglitten und haben ihm Wasser entzogen, das sich nun oben gebunden hält“. Geradezu aberwitzig sind Entgleisungen auf anderer Ebene, wenn etwa, wie oben, behauptet wird, daß das „Geheimnisvolle unspektakulär“ geschähe, und der Schriftsteller soeben einen ganzen Obstbaumwald zur Flußüberquerung hatte antreten lassen. Wer möchte da nicht dabei sein? Dagegen ist eine Sonnenfinsternis, die zuletzt Millionen auf die Beine gebracht hat, doch ein Kinderspiel.
Wo es um das Geheimnisvolle geht, liegt es nahe, daß sich die Naturannäherung Aigners mit den wesentlichen Fragen des „Seins“ mischt: jenen nach der eigenen Vergänglichkeit, nach den Rätseln der „Seele“ („mein reiner unsichtbarer Körper“), nach dem Platz eines jeden Seienden im „unermesslichen Universum“ und damit nach Plan des Seins überhaupt („Teil einer ungeheuren Zelle eines unbegreifbaren Wesens, werden wir nicht wissen, ob und welche Aufgaben wir darin erfüllen“). Es sind jene Fragen, aus denen sich seit jeher die Religionen speisen, auf die die Philospohien immer neue Fragen folgen lassen und die „exakten“ Wissenschaften regelmäßig mit analytischen, aber zumeist schon bald überholten Bestandsaufnahmen reagieren. Es sind letztendlich auch die Dauerfragen der Literatur, die sie in jedem Einzelfall aus einer eigenen Perspektive vorträgt, sei es die eines verträumten „promeneur solitaire“ (Rousseau), eines romantischen „Taugenichts“ (Eichendorff), eines „Steppenwolfs“ (Hesse) oder eines „Anhalters durch die Galaxis“ (Douglas Adams), der gar das unverschämte Glück hat, „die Große Frage nach dem Leben, dem Universum und allem“ von dem Superrechner DEEP THOUGHT beantwortet zu bekommen.
Bei dem in Salzburg lebenden Oberösterreicher Aigner (Jg. 1954) ist wieder einmal ein sensibler und ziemlich humorloser „lonely wolf“ unterwegs durch italienische Bergdörfer, Österreichs Öko-Nischen und nordisches Wattenmeer. Es ist ein von seinem „armen Vater“ geprügeltes Männer-Ich mit „Sehnsucht“ und „Seelenbrennen“, das zuweilen in einem „Zeittäschchen“ durch eine Blume gehen oder sich in einen „beinah verwilderten kleinen Kater“ verwandeln kann. Ein Teil seines Sehnens gehört den (scheinbar unerreichbaren) Frauen, ein Teil seines Staunens der Photosynthese, von der und anderem er in seinem Biologie-Schulbuch offenbar nicht genug bekommen hat. Diesbezüglich hätte der Rückgriff auf ein (mittlerweile freilich schon veraltetes) Standardwerk der Biologie, Jacques Monods „Zufall und Notwendigkeit“, vorbeugen können, in dem der französische Nobelpreisträger einleitend klarstellt: „Die Lebewesen sind seltsame Objekte. Die Menschen müssen das zu allen Zeiten mehr oder weniger undeutlich gewußt haben“.
Natürlich sollte man deshalb das ehrliche Ringen dieses Ichs (und seines Autors) mit sich selbst nicht geringschätzen, aber dieses Buch ist nichts Halbes, nichts Ganzes: Tiefsinn und Gefühlsduselei, poetischer Anspruch gepaart mit Kitsch (die Sonne, die durch ein verregnetes Fenster scheint: „Es könnte ein Engel sein, der daran leckt“) und insgesamt ein fast pubertärer Mischmasch an atavistischen Wahrnehmungsweisen und Fragestellungen. Die Antwort, die DEEP THOUGHT darauf bereit hält, ist übrigens „Zweiundvierzig“ – mit dem Zusatz: „Wenn ihr erst einmal genau wißt, wie die Frage wirklich lautet, dann werdet ihr auch wissen, was die Antwort bedeutet“.