#Lyrik

mimose. schneckenhaus

Judith Fischer

// Rezension von Thomas Eder

Existentielle Verstrickung, nicht zu verwechseln mit biografistischer Innerlichkeit, ist eines der Grundelemente in Judith Fischers Buch mimose. schneckenhaus. Aus disparaten Quellen (Sachbüchern der Biologie, Zeugnissen der Botanomantie, der Wahrsagerei aus Pflanzen, Mitschriften von Direktbeobachtungen, fremden Dichtungen etc.) destilliert Fischer einen brüchigen, fragmentarisch lose verwobenen Textkörper, der tatsächlich die Mimesis einer Mimose sein könnte. (Wenn man Mimesis in veränderter Form auf avancierte Dichtung anwenden und nicht dem literaturwissenschaftlichen Credo unreflektiert folgen will, daß die Poesie der Moderne in höchstem Grad anti-mimetisch sei. Eine solches Credo fußt auf der zweifelhaften Bestimmung von literarischem Realismus als einzig adäquater Widerspiegelung einer außersprachlichen Wirklichkeit in der Literatur.)

Gekreuzt wird dieses Fischersche mimosen-Fragment mit dem zweiten titelgebenden Motivstrang, der einwärtsgekehrten Schneckenhausform. Wie auch das organische Schneckenhaus so konstruiert ist, daß Ökonomie der Einzelteile und Funktion der Form dominieren – keine einzige Windung könnte dem biologischen Schneckenhaus genommen werden, ohne daß es in sich zusammenbräche -, so schlingen sich Fischers biomorphe Textsplitter sprach- und wahrnehmungsökonomisch um die Mimosentexte herum. Diese entfalten sich entlang der angeeigneten, auf nicht-dumpf-vitale Art durchlebten Fremdtexte, die sensitive Angelpunkte für die eigenen Sprachschöpfungen markieren: aus dem Abstrakten drängt sie ins Konkrete, freilich nicht ganz im Sinne der „Konkreten Poesie“ der Väter. In ihrer dem Sujet nach weiblichen Prosa/Lyrik notiert sie: „sinnliches erfassen / eine miniaturistin / psychogramme / lakonisch / lyrik prosagedichte / ein wechsel zwischen / erlebendem beobachtendem und / berichtendem ich / wechsel von abstrakter zu konkreter prosa / augenblicke ploetzliches zurückschrecken / fuehler einziehen falten und klappen / zurueckzucken zurueckschrecken, eine heftige reaktion / ein rueckzug, / keine trennung mehr“.

Ein solcher auch im poetologischen Sinn zu verstehender Rückzug, ohne auf eine Trennung von den Errungenschaften der literarischen Moderne zu beharren, eignet der Fischerschen Schreibweise ebenso wie den anderen jüngst von Christian Steinbacher in seiner edition BLATTWERK verlegten Bücher (z. B. Waltraud Seidlhofer: la(e)sergedichte; Robert Stähr: Umtexte). Sie umschreiben – wenn auch nicht lauttönend, selbstbepinselnd – die gegenwärtigen Formen avancierter Literatur.

Judith Fischer mimose. schneckenhaus
Gedichte.
Linz: Blattwerk, 1997.
72 S.; brosch.; m. Abb.
ISBN 3-901445-19-6.

Rezension vom 10.12.1997

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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