Auffallend ist auch die Präsenz von Ereignissen aus nationalsozialistischer Zeit, die unverdaut in den Köpfen herumschwirren. Denn dass KZler, die vor lauter Hunger die Blätter der Obstbäume essen, erschossen werden, lässt sich eben doch nicht so einfach wegstecken. Andererseits gibt es auch Stimmen, die finden, dass er „schon sehr gute Ideen gehabt hat, der Hitler“.
Leidenfrost zeigt kommentarlos auf: NS-Verblendung, Gewalt gegen Kinder und Frauen, pragmatische Eheentscheidungen, diverse Lebensabhängigkeiten und wahre Gefühle, die etwa zum einzig „schönen Sommer“ eines ganzen Lebens führen.
Dass es gut tut, über eine Zeit zu sprechen, die „schon lange aus ist“, wird in diesen ‚Alte-Leute-Geschichten‘ genauso deutlich wie der Umstand, dass Krieg „nichts Schönes“ ist. Dass wir ihn bräuchten, nur um wieder einmal zu sehen, was Hunger ist und was es heißt, Angst zu haben und dadurch mehr aufeinander zu schauen und einander näher zu rücken, wäre trotzdem die falsche Schlussfolgerung, auch wenn die gesellschaftliche Realität wenig dazu beiträgt, diesen Gedanken als Mumpitz abzutun.
Dass alle Betroffenen Probleme haben, Worte zu finden, hängt weniger davon ab, dass die Erinnerung irgendwo aufhört und zu verschwimmen beginnt, „als würdest du unter Wasser die Augen öffnen“, sondern weil die Zunge so schwer im Mund liegt und sich Worte deshalb nicht leicht formen lassen. Dementsprechend weiß man oft nicht gleich, wer da jetzt genau redet oder worum es geht. Das erschließt sich einem erst nach und nach. Auch folgt das Erzählte keiner linearen Handlungslogik, sondern individueller Spontaneität, die sich an Alltagserfahrungen und Schicksalsschlägen entlanghantelt. Das weite Erzählfeld dahinter lässt sich nur erahnen. Was man sieht, sind viele kleine Bildfragmente aus einer dörflichen Welt, die im Gedächtnis haften geblieben sind. Aber daraus erwächst kein dem Konformismus folgendes Geschichtenarrangement. Leidenfrost orientiert sich an der „gesprochenen Sprache“. Die über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren entstandenen Texte sind geprägt von mündlichem Erzählen, wie es die Autorin aus ihrer Umgebung kennt. Aber das Konventionelle bleibt außen vor. Vielmehr verwandelt sich jede Geschichte in einen Raben, „der den Kopf schief legt“. Denn im Grunde geht es gerade auch darum: „eine Geschichte (zu) erzählen, die noch keiner gehört hat“. Und das gelingt zum Teil recht bravourös.
„Goldene Zeiten“ sind aber eher die Ausnahme. In erster Linie geht es um unterschiedliche Schrecklichkeiten, die das Gedächtnis strapazieren: Krankheit, Pflege, Tod, Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg. Letzterer taucht in den Gesprächen der Erwachsenen immer wieder auf. Die aber tun so, als hätte es ihn nie gegeben, während sie mit Gott genau umgekehrt verfahren: „Niemand weiß wirklich etwas, aber alle reden ständig von ihm.“ Das allerdings lenkt, wie man sich vorstellen kann, zumindest vom eigenen Lebensdilemma ab. Zu nahe sollen einem die eigenen Empfindungen ja nicht kommen. Sonst würden sie vielleicht doch noch eine Gefühlskrise auslösen.
Dass das nicht passiert, dafür gibt es eine klare Regel: Man spricht einfach nicht darüber, „wie man sich fühlt“. Genau daraus aber erwächst die Eigenwilligkeit dieser sich aus familiären Alltagsturbulenzen und den Problemen des Altwerdens speisenden Geschichten. Dabei kann es schon passieren, dass man „auf nichts“ mehr warten will, „nicht einmal mehr auf den kommenden Tag“.
Hätte so jemand Lucia Leidenfrosts poetische Erzählungen im Visier, würde er vielleicht doch eher warten, – auf ein neues Buch der Autorin zum Beispiel.