Der zweite Band wird die Arbeiten aus den Jahren 1982 bis 1993 vereinen, der dritte jene, die zwischen 1995 und ihrem Tod entstanden, und für den vierten ist der schöne Gerstl’sche Titel „Tandlerfundstücke“ reserviert worden, unter welchem, so der Verlag, „verstreut publiziert und unveröffentlichte Texte, Textkarten, Materialien, 1955-2009“ arrangiert sein werden.
Beginnen sollte man den stabilen, dabei handlichen, gut gedruckten, mit privaten Fotografien, Notizbuch- und Typoskriptabbildungen ausgestatteten Auftaktband unorthodox. Vielleicht nicht mit den darin enthaltenen Arbeiten aus der Feder und der Schreibmaschine Elfriede Gerstls, den raffinierten „Gesellschaftsspielen mit mir“ (1962), den in einer Kleinstpresse erschienenen „Mittellangen Minis“ von 1967, der Sektion mit den vier lesenswerten Hörspielen „du bist nicht allein oder der ORF dein treuer Begleiter“, „Berechtigte Fragen“, „Gudrun, die Geschichte und ihr Unterricht“ und „Sätze mit Haus und Haut“ mitsamt des verspielt-bissigen Vorsatz-Essays „Aus der Not ein Hörspiel machen – zur Not ein Hörspiel hören“ oder der Prosaarbeit „Spielräume“ (1977).
Beginnen sollte man vielmehr mit den beiden abgedruckten Nachbemerkungen Andreas Okopenkos (zur Erstausgabe in der edition neue texte: leichthändig, ironisch) und Heimrad Bäckers (zur Neuauflage in der edition neue texte anno 1993: getragener, akademischer) zu den „Spielräumen“ sowie mit dem Nachwort der beiden Herausgeberinnen dieser Werkausgabe, der Salzburger Germanistin und Literaturvermittlerin Christa Gürtler, die sich seit langem mit dem Gerstlschen Werk auseinandersetzt und 2002 einen Materialienband über sie edierte, und der an der Grazer Karl-Franzens-Universität lehrenden Helga Mitterbauer. Hier erfährt man vieles über die ersten zögernden Tastschreibversuche, über Gerstls rasch einsetzende Tendenz zur Reduktion des Ausdrucks einerseits wie zu einer ironisch grundierten Verspieltheit, über ihre (prä)feministische Sicht wie über ihre Entspanntheit gegenüber ideologischen Krämpfen und politisch rechthaberischen Verbiestertheiten.
Dass all dieses nun gar nicht passte zu einem solch paternalistischen Projekt wie ihrem durch ein Stipendium ermöglichten Schreibaufenthalt im Literarischen Colloquium Berlin 1963, bei dem jüngeren Autoren die literarischen Schwergewichte der Gruppe 47, Hans Werner Richter, Peter Rühmkorf, Peter Weiss und Günter Grass, über die Schulter sahen und deren Arbeiten begutachteten, lag auf der Hand. Vor allem der humorlose Grass gerierte, wie ein Notizbucheintrag Gerstls überliefert, sich als allein seligmachender „Pate“ und scharfer Richter in einem, welcher alles, was seiner eigenen Realismus-Ästhetik zuwiderlief, lautstark verdammte, vor allem das, was Gerstl schrieb. Der Ansatz der Wiener Jüdin Gerstl, die die Nazizeit als „U-Boot“ in Wohnungsverstecken überlebte, war konträr zu der im besten Fall barock-grotesken Prosa des Danzigers, der, wie man heute weiß, seine Jugendzeit bei der Waffen-SS Jahrzehnte lang verschwieg.
„Elfriede Gerstl gehört, obwohl sie etwas älter ist als deren Protagonisten,“ schrieb Matthias Fallenstein einmal zutreffend, „der Generation der Studentenbewegung an, sie teilt mit ihr die Lebenswelt der 50er und frühen 60er Jahre, ‚so weit, so trist’, wie sie einmal schrieb, und den Drang, die lastenden Verhältnisse der politischen und kulturellen Restauration aufzusprengen. Aber sie war, befähigt durch ihre Kindheitserfahrungen mit der realen Verfolgung, welche den Jüngeren fehlten, zugleich eine sehr scharfe Beobachterin dieser Generation und wurde deshalb auch deren kompetente Kritikerin. Ihre Texte schreiben sich nicht vom 20. Jänner 1942, dem Tag der Wannsee-Konferenz, her, wie die Gedichte Paul Celans, sondern eher vom Datum der Kapitulation des Dritten Reiches, dem 8. Mai 1945: vom Tag der verpassten Befreiung. Es ist die Last der drückenden Verhältnisse, denen sie ihren Widerspruch entgegen hält, in einem leichten und witzig-frechen Ton, denn nichts verklärte die hoffnungslose Situation dieser Jahre besser als der hohe Ton, in welchem der Kulturbetrieb sich erging.“
Dass die italienische Übersetzung von „Spielräume“, für den Gerstl 2009 posthum den Premio Roma zugesprochen bekam – ein Faktum, das in diesem Band unerwähnt bleibt –, den ins Deutsche rückübersetzten Titel „Räume, um mit dem Sinn zu spielen“ trägt (Spazi per giocare con la mente), bündelt prägnant die offene Zielrichtung dieser kompositorisch offenen Prosaarbeit. Sie arbeitet mit Montage und Collage, setzt triviale Alltagsbeobachtungen und Alltagssätze neben einen bodenlosen Pseudorealismus, etwa wenn es um Aufzählungen geht, lässt die Figuren selber kommentierend zu Wort kommen, grundiert dies allerdings im Gegensatz zu vielen anderen experimentell vorgehenden Autoren der Sechziger Jahre mit Humor, Ironie und entspannter Artistik. Das planvoll planlose Spiel um die Protagonistin Grit verweist in seiner Bewusstheit des Randständigen (und in seiner fatalen Editionshistorie: eine Veröffentlichung im großen Rowohlt Verlag zerschlug sich zur Jahreswende 1967/68, der Text erschien erst zehn Jahre später in Heimrad Bäckers ambitionierter edition neue texte) auf die späterhin einsetzende, kunstvoll gepflegte Randständigkeit der Dichterin Elfriede Gerstl. Die Kleider- und Dingesammlerin erweist sich in diesem für die österreichische Nachkriegsliteratur essentiellen anti-erzählerischen additiven Avantgardeweltgebilde als schwebend grazile, dabei in der Welt verankerte Dichterin, die einerseits, inspiriert von Wittgenstein, Sagbarkeit und Unsagbarkeit zum Motiv sich erwählte, andererseits eine originär weibliche Sicht auf die Welt und auf die männlich dominierte Sprache in ein Kunstwerk von Rang überführte.