#Roman
#Prosa

Mittelstadtrauschen

Margarita Kinstner

// Rezension von Emily Walton

Die Geschichte beginnt wie eine ganz herkömmliche: Zwei Menschen, Marie und Jakob, lernen einander im Kaffeehaus kennen. Sie tasten einander ab, beschnuppern einander, gehen eine Beziehung ein. Wie die meisten, die um die Dreißig sind, bringen beide eine Vergangenheit mit – einen Rattenschwanz an Erfahrungen in Liebe und anderen Dingen.

Geschichten über die Liebe sind viele geschrieben worden. Geschichten über Wien ebenso. Mittelstadtrauschen ist aber eine Wiener Liebesgeschichte mit einer außergewöhnlichen Form: Der Text besteht aus vielen, vielen einzelnen Szenen, die wie Mosaiksteinchen gesetzt werden mussten. Das ist der Autorin gelungen: Margarita Kinstner hat ihre Passagen so zusammengefügt, dass sie einen gut konstruierten, funktionierenden Roman ergeben.

Handlungsort ist also Wien, ein vielseitiger Ort. Das spürt man, wenn man Kinstners Stadtbeobachtungen liest – sie reichen vom Wurstlprater über das Palatschinkenpfandl im ersten bis hin zu den Westbahngleisen im 14. Bezirk. Eine weitere Erkenntnis, die der Leser schnell macht: In gewisser Weise ist Wien, diese Zwei-Millionen-Stadt, doch ein Dorf. Die Anonymität, die hier herrscht, ist nur eine vermeintliche. Am Ende kennt jeder jeden – irgendwie.

In Mittelstadtrauschen sind sämtliche Figuren miteinander verbunden: Sie formen Beziehungen (nicht immer sexuelle), rücken näher, rücken wieder auseinander, neue Konstellationen entstehen. Eine Art Alltagsverwitterung.

Neben den einleitend erwähnten Figuren Marie und Jakob wird der Leser an die Lebensgeschichten von Hedi, Traude, Norbert, Anna, Sonja, Geri und einigen weiteren Charakteren herangeführt. Da gibt es Geri, der Essen auf Rädern ausliefert, im Herzen aber Videokünstler ist. Er lenkt sich von seinen Alltagssorgen mit Drogen und Frauen ab. So trifft er auf Sonja, die um die 30, single und auf der Suche nach einem Kindsvater ist. Wie Geri und Sonja in die Geschichte – zu Marie und Jakob – passen? Nach und nach erfährt der Leser, dass Sonja die Exfreundin von Jakob ist. Und dessen Großmutter wiederum ist es, die Geri nun als Pfleger betreut. In der alten Hedi findet Geri eine Vertrauensperson, die er so dringend braucht, nachdem sein guter Freund, Joe, Selbstmord begangen hat. Joe ist in die Donau gesprungen – und war, um den Informationskreis hier zu schließen, Maries große Liebe.

Es sind diese Zusammenhänge, die zwischenmenschlichen Interaktionen, die den Figuren Ecken und Kanten und der Geschichte eine Dynamik geben. Als Leser braucht man da freilich Aufmerksamkeit, ertappt sich dabei, nach einem Stück Papier zu greifen, um die Verbindungsketten zwischen den Figuren aufzuzeichnen. Stellenweise kommt auch das Gefühl auf, dass diese Zufälle manchmal etwas zu weit hergeholt seien. (Aber es ist eine Liebesgeschichte. Und die Liebe folgt keiner Logik!) Man liest darüber hinweg, lässt sich lieber von Kinstners bildhafter Sprache und ihrem subtilen Humor leiten. Immer wieder lacht man als Leser auf, ist aber ebenso oft berührt: Besonders jene Passagen, die sich um die Alten drehen, gehen nah: Wenn die achtzigjährige Hedi das Essen nicht anrührt, aus Angst, Durchfall zu bekommen. Wenn Maries dementer Vater glaubt, mit seiner verstorbenen Frau in Sizilien zu sein. Auch die Fragen und Gedanken der Protagonisten zum Thema Liebe regen immer wieder zum Nachdenken und Innehalten an.

Die Lebensgeschichten der Figuren machen Lust auf mehr, sodass man das Buch ungern weglegen möchte. Ob dies aber gereicht hätte, um dem Roman bis zum Schluss die notwendige Sogkraft zu geben, ist schwierig zu sagen. Kinstner wusste jedenfalls gegenzuwirken: Den Spannungsbogen hält sie mit dem Rätsel rund um Joes ungeöffnetes Testament bis zum Schluss aufrecht. Was darin enthalten sein wird?

Ein Happy End. Vielleicht.

Margarita Kinstner Mittelstadtrauschen.
Roman.
Wien: Deuticke Verlag, 2013.
288 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3552062269.

Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autorin

Rezension vom 01.09.2013

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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