Diese Mythenbildung schlägt sich nicht zuletzt in der Wirkung nieder, die Bachmann auf andere Künstlerinnen und Künstler ausgeübt hat und ausübt. Interessant sind dabei jene, bei denen sich eine Bewegung ausmachen lässt, die die Schweizer Schriftstellerin Rahel Hutmacher (in: Schriftwechsel, 1994, 74f.) an sich wahrgenommen hat, nämlich die Bewegung des Von-Bachmann-Ausgehens zu einem Über-sie-Hinausgehen, einem Sich-von-ihr-Wegschreiben, die durchwegs bei den von der Autorin inspirierten Künstlerinnen und Künstlern zu beobachten ist, denen die elf Beiträge im vorliegenden, in vier Themenkreise gegliederten Sammelband gewidmet sind.
Der erste Abschnitt beleuchtet die besondere Freundschaft zwischen Bachmann und der 14 Jahre jüngeren, in der Schweiz geborenen italienischen Dichterin Fleur Jaeggy. Mag.a Pilar Soria Milláns Ausführungen über Worte des Schweigens zufolge basierte diese freundschaftliche Beziehung nicht nur auf der gegenseitigen Wertschätzung des literarischen Schaffens, sondern war getragen von einem Dritte ausschließenden, sich in befreitem Lachen ebenso wie in gemeinsamem Schweigen manifestierenden „Einverständnis“ (15) zwischen ihnen. In Jaeggys Erinnerungstext Reise ans Meer finden sich die bezeichnenden Sätze: „Ich betrachtete wieder dieses Gesicht [Bachmanns], das keinerlei Unruhe verriet […] Es verriet jedoch eine Stille, das hartnäckige und sanfte Gebot: schweigen. Diesem Gesicht hatte sie verordnet in absentia zu bleiben.“ (zit. nach 19, Hervorh. K.B.) Stille, Schweigen, Insistieren auf Diskretion erkennt Millán als zentral für beider Werk. An deren Hinweis auf Motivparallelen zwischen Bachmanns Erzählung Ein Schritt nach Gomorrha (1961) und Jaeggys I beati anni del castigo (1989, dt. Die seligen Jahre der Züchtigung, 1996) knüpft Ma Angels Gimenez Campos in Nach-Gedanken zu einer Freundschaft an. In beiden Texten scheine in der Beziehung zweier Frauen momenthaft die Möglichkeit auf einer Übereinstimmung von „Körper und Liebe“ (26) und einer anderen als der belasteten Beziehung zwischen Mann und Frau.
Der zweite Abschnitt bringt je einen Beitrag zu theatralischen, musikalischen und bildkünstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Werk von Bachmann. Die schon genannte Eva Brenner, hier im Gespräch mit der Mitherausgeberin Brigitte E. Jirku, hat mehrere Performances mit Texten der Autorin inszeniert, beginnend 1996 mit der Arbeit am fragmentarisch gebliebenen Erzähltext Gier, den Brenner als „theatralische Anweisung mit poetischen Figuren“ versteht, „die allesamt Täter und Opfer sind.“ (35) In der Selbsteinschätzung der „Theaterfrau“ eine feministische Interpretation, wird Bachmanns Kritik am Fortwirken des Faschismus im Alltag und in den patriarchalischen Strukturen betont. Unter dem Titel Es weiß ja jeder folgte im Jahr 2000 eine gemeinsam mit dem Bühnenbildner Walter Lauterer geschaffene Raum-Performance nach elf um den Themenkreis „Liebe und Liebesverlust“ kreisenden Texten aus dem Band unveröffentlichter Gedichte Ich weiß keine bessere Welt. Bewegung im Raum, Gestik, Mimik, „niemals illustrativ“ (37), sind inszeniert als Widerstand gegen das in den Bachmann-Gedichten zum Ausdruck kommende Sterben-Wollen, das von der Autorin immer wieder apostrophierte (allerdings in ihren Texten, vor allem in Böhmen liegt am Meer auch zweideutige) „Zugrundegehen“. Im Zusammenhang mit der Ausstellung Schreiben gegen den Krieg entstand, zuerst für Dublin 2004, dann überarbeitet für Wien und Polen, die Performance Auf diesem dunkelnden Stern, die Bachmanns Widerstand gegen „Geschichtsverdrängung“ (48) thematisiert. In dieser Produktion wurde erstmals die Beziehung der Autorin zu Paul Celan mitgedacht, die mittlerweile in einer im Oktober 2010 in Valencia uraufgeführten, mittlerweile auch in Wien gezeigten Performance Brenners in ihrer Bedeutung für das politische Bewusstsein der Autorin herausgestrichen wird.
Die besondere Beziehung Bachmanns zu Musik ist ebenso bekannt wie ihre „Faszination für die menschliche Stimme“ (53), die Arno Gimber in seinem Beitrag über „in Musik gesetzt[e]“ Lyrik der Autorin herausstreicht. Unter zahllosen Vertonungen Bachmannscher Texte wählt er zwei wenig bekannte, gleichwohl besonders bemerkenswerte aus: In einem Fall ist es ein Gedicht, nämlich das viel interpretierte Reklame, das von der bulgarischen Komponistin Julia Tsenova, 2001 zweimal für Klavier und Singstimme vertont wurde, einmal der durch den Prätext vorgegebenen Kontrapunktik zweier Diskurse folgend, dann unter Ausklammerung des einen, der Versprechungen der Konsumwelt. Der der Musik aber bleibt dieser Diskurs eingeschrieben. Das zweite Beispiel ist Bernd Richard Deutschs durch den Verzicht auf Text einen großen interpretatorischen Spielraum eröffnende „Instrumentalsetzung“ (60) des Gedichts Schwarzer Walzer für seine Komposition „Curriculum vitae – Klaviertrio pro Monumentum per Ingeborg Bachmann (2005). Die im letzten Vers des von der Autorin als Venedig-Gedicht verstandenen Schwarzen Walzers geforderte „Coda“ liefert der Komponist mit musikalischen Anspielungen auf die Schlussarie aus Tristan und Isolde des in Venedig verstorbenen Richard Wagner. Auf diese Arie beziehen sich die drei zu Lebzeiten der Autorin unveröffentlicht gebliebenen Gedichte mit dem Titel Mild und leise ihrerseits intertextuell.
Auf Bachmanns Gedicht Das Spiel ist aus (1954), das mit der Anrufung „Mein lieber Bruder“ einsetzt, bezieht sich der der Literatur (u. a. Paul Celan, Peter Handke oder Christoph Ransmayr) sehr zugetane Künstler Anselm Kiefer mehrmals in seinem Werk, der Titel seines Monumentalgemäldes im Berliner Reichstagsgebäude, Nur mit Wind, mit Zeit und mit Klang, allerdings entstammt nicht dem genannten, sondern dem 1957 erstveröffentlichten Gedicht Exil. Gleichwohl pflegt der Künstler, der sich auch auf Verse weiterer Gedichte der Autorin (wie Nebelland oder Böhmen liegt am Meer) bezieht, gewissermaßen einen geschwisterlichen Kontakt mit dieser, so dass Annette Gilbert zurecht von einem (fiktiven) Dialog spricht, den Kiefer „mit Ingeborg Bachmann über Geschichte, Zeit und Utopie“ (vgl. 74) führt. Es ist das „Geschichtsbewusstsein“ (75), die Auffassung von dessen Konstruktcharakter, die scharfe Sicht auf die zerstörerische Wirkung des Faschismus und dessen Weiterwirken bei gleichzeitig utopischer Ausrichtung, die die beiden ebenso teilen wie das Interesse, den Menschen am Schnittpunkt von allgemeiner und persönlicher Geschichte zu zeigen.
Unter der Kapitelüberschrift „Bachmanns Erben: grenzenlos“ gibt Arturo Larcati – nebenbei auch auf Luigi Nonos unkonventionelle, Bruchstücke des Prätexts montierende Vertonung von Keine Delikatessen eingehend – einen Überblick über das Weiterwirken der Autorin in der Literatur ihres „erstgeborenen Landes“. Die Bandbreite reicht von überschwenglicher Begeisterung einer Anna Maria Ortese, auf deren Roman Neapel liegt nicht am Meer (1953) sich möglicherweise Bachmanns Böhmen liegt am Meer bezieht, allerdings der „negative[n] Utopie“ (106) des Romans mit einem utopischen Gestus antwortend, oder einer Giuliana Morandini, die Bachmann in eine Reihe mit Musil und Roth stellt und in ihrem Werk mehrfach auf den Fall Franza und Malina anspielt. Die Bandbreite reicht weiter über ambivalente Positionen eines von Simultan begeisterten, von den Todesarten-Texten entsetzten Pietro Citati oder eines Giovanni Giudici, der der Dichterin je ein von Enttäuschung und Verehrung geprägtes Gedicht widmet, bis zu totaler Ablehnung durch Fruttero & Lucentini. Am bemerkenswertesten sind intensive Auseinandersetzungen mit dem bei Bachmann vorgefundenen Material etwa in Domenico Starnones Labilità (2005), der – fasziniert vom Gedicht Das Spiel ist aus – ein „subtiles“ intertextuelles „Spiel um die Interpretation des Gedichts“ (108) anstellt, oder in der Aufsatzsammlung Phänomenologie des Verlassenseins und anderen Texten postmodern verfährt mit Zitaten und Fragmenten aus Bachmannschen Werken, speziell dem Fall Franza und der Erzählung Das dreißigste Jahr.
Eine „Stille Verwandtschaft“, ja einen intensiven poetischen Dialog zwischen Bachmann und ihrer Übersetzerin ins Katalanische, der Dichterin Teresa Pascual, beobachtet Antònia Cabanilles. Beide thematisieren den Wunsch nach Aufhebung des Gegensatzes von Verstand und Gefühl, beide auch sind überzeugt von der Bedeutung des Schweigens als Voraussetzung einer neuen, besseren Sprache. Eine Anregung ganz anderer Art von einem Bachmann-Gedicht hingegen erfährt die Autorin Terézia Mora, die in einem Essay über die verehrte Dichterin in dieser eine Klassikerin und als solcher „eine Art Wegkreuz, eine steinerne Maria, ein[en] Florian im Felde“ (141) sieht. Während einer Schreibkrise an dem Roman, der den Titel Alle Tage tragen sollte, stieß Mora auf das Bachmann-Gedicht gleichen Titels, eine Art „Epiphanie“ (142) für sie, wie Elke Brüns in ihrem Beitrag „Literarische Wegelagerei. Terézia Moras Hommage an Ingeborg Bachmann“ die Lektüre-Erfahrung der jüngeren Autorin treffend nennt. Ob auch deren Romananfang als ein Echo auf Malina verstanden werden kann, ist aufgrund von Moras Dementi, es handle sich dabei um ein „intertextuelles Spiel“ (150) umstritten. Brüns lässt sich nicht irritieren, macht der Autorin ihr Recht nicht streitig, aber auch nicht der Leserin das ihre. Tatsächlich zitiert Mora nicht, macht mit ihrem Romananfang allerdings bewusst oder unbewusst das Angebot, es intertextuell zu verstehen, keinesfalls als „Plagiat“ (145), wie sie zu befürchten scheint. Es ist durchaus eine „eigene, originäre Schöpfung“ (ebda), hochgradig intertextuell (im Sinne Manfred Pfisters), insofern ein vorgefundener Gedanke nicht bloß wiederholt oder zitiert wird, sondern eigenständig verarbeitet und modifiziert wird.
Der letzte Abschnitt ist „Bachmanns literarischen Erben in Österreich“ gewidmet, wobei aus der Vielzahl der in Frage kommenden Autorinnen (und auch einiger Autoren) die Auswahl auf drei zweifellos bedeutsame, nämlich Evelyn Schlag, Elisabeth Reichart und Elfriede Jelinek fällt. Erstgenannte gehört zu jenen, die ursprünglich durchaus inspiriert von der älteren Autorin – in ihrer ersten Veröffentlichung, der Erzählung Nachhilfe (1981) finden sich zahlreiche intertextuelle Bezüge auf Malina, das Franza-Fragment oder die Erzählung Ein Schritt nach Gomorrha -, späterhin entschieden auf Distanz gehen, „eine kritisch-innovative Perspektive“ (156) einnehmen: „Je weiter ich mich […] in die Beschreibung von Körperlichkeit begebe, desto weiter entferne ich mich von Bachmann“ (nach 158), so zitiert Cécile Chamayou-Kuhn in ihrem Beitrag „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meines Körpers“ aus der Klagenfurter Rede über Bachmann ( abgedr. in: manuskripte 2004, H. 165). Während die ältere Autorin die Geschlechteridentitäten geradezu modellhaft fasst, neigt Schlag zur Konkretisierung, weshalb sich auch die Dichotomisierung Männer = Täter vs. Frauen = Opfer in deren Texten nur selten (die Verf. verweist auf das Gedicht Fischblut) findet. Allerdings ist es auch bei Bachmann nicht so einfach, denkt man etwa an die Erzählung Undine geht, zu der die Autorin in einem Interview sagt, Undine verkörpere die Kunst und sie selbst stehe auf der Seite der Männer. Schlag wirft Bachmann aber insbesondere vor, dass die in den Todesarten thematisierten „großen Bedrohungen […] nicht spürbar werden in den Beziehungen der Wörter zueinander“ (manuskripte H. 165, 121).
Elisabeth Reichart hingegen, so Renata Cornejo im Blick auf deren Essay Poesie ist Brot, bewundert an Bachmann die Radikalität der weiblichen Wahrnehmung der Realität, des alltäglichen Faschismus in den Beziehungen zwischen Mann und Frau, der Gewaltgeschichte, die über Generationen in den Familien als „Verheerung“ (so Christa Wolf im Nachwort zu Februarschatten) weiterwirkt. Reichart übernimmt aus Bachmanns Nachlass-Gedicht Ängste die Metapher vom „dunklen Schatten“, der aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinreicht, eine zentrale Metapher im Werk der jüngeren Autorin, angefangen von ihrem Erstling Februarschatten (2004), der vom Gewaltexzess der Mühlviertler Hasenjagd im Februar 1945 handelt, über beispielsweise den Roman Nachtmär (1995) bis hin zum Roman Die Voest-Kinder (2011). Es sind – angeregt von der symbolischen Vaterfigur in Malina – Väter, die für den Immer-Krieg-Zustand verantwortlich sind, es sind Frauen und Kinder, die unter den von den Vätern generierten „Verheerungen“ leiden.
Eine die Bachmann radikalisierende Fortschreibung erkennt Brigitte E. Jirku im Werk von Elfriede Jelinek, die keine intertextuellen Bezüge zum Werk der älteren Autorin herstellt, diese nie „zitiert“, vielmehr „hinter sich zu lassen“ (219) bestrebt ist. Jelinek handelt nicht von „Todesart[en] sondern [… vom] Totsein, [… von der] Nicht-Existenz der Frau“ (194), weshalb das utopische Moment, das Bachmanns Werken trotz aller Zerstörung eingeschrieben ist, bei der jüngeren Autorin völlig fehlt. Diese wendet sich weiters entschieden gegen die biographistische Lesart, die man der Bachmann häufig angetan hat, befreit aber auch „von einer erstarrten weiblichen Mythenbildung“ (218). Jirkus Ausführungen sprengen durch viele Anregungen – Roland Barthes als „Matrix im Werk beider Autorinnen“ (194), beider besondere, noch zu vergleichende Beziehung zur Musik, erneut ins Spiel-Bringen von Wittgenstein und Heidegger etc. – das Maß eines Beitrags für einen Sammelband. Wie alle Aufsätze in diesem macht auch dieser beispielhaft deutlich, wie lebendig der Dialog ist, in den Autorinnen und Autoren, aber auch andere Künstlerinnen und Künstler mit dem Werk von Ingeborg Bachmann nach wie vor treten.