#Anthologie

Mord-Express

Peter Hiess, Christian Lunzer

// Rezension von Sabine E. Dengscherz (Selzer)

Die größten Verbrechen in der Geschichte der Eisenbahn.

Dass Züge und Bahnhöfe als Genius loci für Thriller, Kriminalromane und Agentenstories offenbar eine unwiderstehliche Anziehungskraft besitzen, dafür gibt es etliche Beispiele. Wer sich auf eine harmlose Fahrt von Wien nach Budapest begibt und dabei zufällig den Orientexpress erwischt, denkt vielleicht dabei an Agatha Christie, wer sein Gepäck am Westbahnhof in einem Schließfach verstaut, wird eventuell an mysteriöse, schwarze Aktenkoffer und die dazugehörigen Filme erinnert, und bei der Fahrt durch einen langen Tunnel werden so manche Assoziationen zu Doderers „Ein Mord, den jeder begeht“ geweckt.

Eisenbahn und Verbrechen scheinen einander anzuziehen. Das Reisen enthebt den einzelnen des Alltags, macht offen für außergewöhnliche Begebenheiten, sorgt manchmal auch für Verunsicherung, das Vertraute weicht dem Unbekannten. Die Anonymität der Bahnhöfe tut dazu das ihre. Fremde begegnen einander auf der Durchreise, die Menge der Menschen ist unübersichtlich. Die einen sind davon abgestoßen, für andere bedeutet gerade diese spezielle Atmosphäre des Unbeständigen, Zufälligen eine eigenartige Faszination.

Peter Hiess und Christian Lunzer nähern sich dem Thema Eisenbahn und Verbrechen nicht in erster Linie über Literatur oder Film, obwohl sie daraus immer wieder Beispiele zitieren, sondern haben reale Fälle gesammelt, wobei der Schwerpunkt allerdings weniger auf der Eisenbahn liegt als auf dem Verbrechen: Serienmörder, Triebtäter, Raubüberfälle, Koffermorde, Erpressungen und schließlich die amerikanische Hobo-Szene, die modernen Landstreicher auf Schienen, sind es, denen sie nachgeforscht haben.

Nach der Lektüre all dieser Geschichten über Mord und Totschlag, Raub und Erpressung könnte man fast an der unbestreitbaren Tatsache zu zweifeln beginnen, dass die Eisenbahn eines der sichersten Verkehrsmittel darstellt – so sehr wird der Eindruck erweckt, als seien diese Ausnahmefälle die Regel. Denn ein bisschen mulmig soll’s dem Leser ja werden, wenn er das nächste Mal den Zug besteigt – der Nervenkitzel ist die Essenz des Krimis – und wenn die Geschichten auf Tatsachen beruhen, dann gilt das erst recht.

Eventuelle Gebrauchsanweisung: Nehmen Sie das Buch, und setzen Sie sich damit ein paar Tage in die Transsibirische Eisenbahn. Reservieren Sie ein Abteil erster Klasse für sich allein – und versuchen Sie, sich zu entspannen. (Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Horrorgeschichten von übrigens sehr sicheren sibirischen Zügen sind in der Auswahl nicht enthalten, aber was nicht ist, kann ja noch werden …) Die Autoren haben es sich jedenfalls zum Ziel gemacht, möglichst viele Eisenbahn-Leichen in aller Welt aufzuzählen und uns auch nicht deren Zustand bei Entdeckung vorzuenthalten. Ein Glück, dass Buchstaben geruchlos sind!

Ähnlich sensationslüstern wie der Titel ist also auch der Inhalt des Buches. Die im Vorwort versprochenen sozialgeschichtlichen Einblicke reichen leider über Gemeinplätze selten hinaus. Besonders die diversen Lustmorde (in Serie) werden bald zur Lesegewohnheit; der Schrecken resultiert in erster Linie aus den Zeichen der Abstumpfung, die der Leser an sich bemerkt. All das ist wohl nicht nur den Autoren anzulasten, sondern liegt bis zu einem gewissen Grad am Thema selbst: Es ist eine Binsenweisheit, dass viele Tote weniger Mitleid erregen als ein Toter, und Kriminalgeschichte besteht nun einmal nicht nur aus einem einzigen Verbrechen.

Die interessantesten Passagen sind jene über diverse Eisenbahn-Überfälle, hier erfährt man tatsächlich etwas über die Geschichte des Reisens, über Sicherheitsvorkehrungen der Eisenbahngesellschaften etc. Hier wird Kriminalgeschichte, wie angekündigt, wirklich zur Sozialgeschichte, hier haben sich die Autoren offenbar auch bei der Recherche Mühe gegeben, was bei manchen anderen Kapiteln (wohl aus – bereits in der Danksagung erwähntem – Zeitmangel) nicht immer der Fall gewesen sein dürfte.

Informativ aber sind auch die Kapitel über die amerikanische Hobo-Szene. In Europa weiß man schließlich wenig über diese Eisenbahn-Tramps, die lange Zeit ein meist friedliches Landstreicherleben führten und niemandem schadeten – abgesehen von den Kassen der Eisenbahngesellschaften. Die Idylle ist aber offensichtlich vorbei, und von den immer härteren Sitten einer Erfolgsgesellschaft blieben auch die Hobos nicht verschont, die Kleinkriminalität wird von schwereren Delikten abgelöst …

Mord-Express wendet sich ebenso an Krimifans wie an Eisenbahnliebhaber. Erstere werden damit vermutlich die eine oder andere spannende Stunde verbringen, letzteren allerdings wird eine Enttäuschung nicht erspart bleiben.

Peter Hiess, Christian Lunzer Mord-Express
Anthologie.
Wien, München. Deuticke, 2000.
299 S.; geb.
ISBN 3-216-30550-3.

Rezension vom 29.12.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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