Die Autorin Elfriede Semrau ist längst keine Unbekannte mehr unter Krimifans. Seit ihrer Pensionierung 1987 hat sie sich auf’s Schreiben verlegt, und das sehr erfolgreich. Ihre Schauplätze und Figuren strahlen Wiener Lokalkolorit aus, manche Charaktere erscheinen immer wieder in ihren Büchern, etwa die Wienzeilen-Originale Poldi und Gretel mit ihrem Gemüsestand am Naschmarkt.
Wir begegnen ihnen auch diesmal wieder, wenn besagte Frau Oberstudienrätin mit ihren alten Bekannten bespricht, was es tags davor am Westbahnhof zu sehen gab: einen seltsam steifen Mann im Rollstuhl und einen anderen, der jenen nicht eben sanft behandelte. Wie es der Zufall so will, steht auch schon etwas in der Zeitung von einem Mord in der City Night Line. Und Frau Dr. Glaser müsste sich schon sehr irren, wenn sie der Polizei nicht weiterhelfen könnte.
Sie irrt sich natürlich nicht. Und in der Wachstube hat man die Hilfe auch bitter nötig. Schließlich gibt es noch anderes zu tun. Die Palette reicht von Drogenschmuggel über Kindesentführung bis zu einem Trunkenbold und Waffennarren in Personalunion, gegen den man offenbar erst einschreiten kann, wenn es einmal Tote gibt. Außerdem alte und neue Fälle von Kindesmissbrauch geistlicher Würdenträger. Und wie sich herausstellt, hat der Tote aus der City Night Line genau in jenem Fall recherchiert.
Elfriede Semrau begnügt sich für ihren Krimi nicht mit einem Fall. Mehrere größere und kleinere Delikte bestimmen den Alltag ihrer amtlichen Ermittler und deren freiwilliger Helfer. Auf der Seite des Guten kämpft im Allgemeinen auch der Alois Hawlicek, vorbestraft wegen schwerer Körperverletzung, derzeit allseits beliebter Hausmeister in einem Lehrlingsheim und Augustin-Verkäufer. Als solcher überall zugegen wo sich etwas tut, auch an besagtem Vormittag am Westbahnhof.
Bis die verzwickten Fälle sich zum guten Ende neigen, fließt bei so viel ehrenamtlicher Beteiligung gar nicht einmal viel Wasser den herbstlichen Wienfluss hinunter; fast beiläufig bekommt auch eine gute Freundin der Frau Oberstudienrätin ihre zwei einst arisierten Schiele-Zeichnungen zurück.
Es ist keine heile Welt, die Elfriede Semrau hier bezeichnet, dafür steht die Krimihandlung zu sehr im Vordergrund. Auch sind die einzelnen Figuren alles andere als Engel, und doch die meisten von ihnen recht sympathisch. Menschliche Schwächen werden gezeigt und verziehen. Meistens. Und die echten Übeltäter sehen einer gerechten Strafe entgegen, sofern sie sich nicht in einem ungarischen Kloster verkriechen können.
Elfriede Semrau weiß intelligent zu unterhalten, mit komplexen Geschichten, aber vor allem mit liebenswert schrulligen Typen, die als charakteristisch für die österreichische Hauptstadt gelten und doch niemals zu reinen Stereotypen verkommen. Ein richtiges Schmankerl ist das Glossar im Anhang, das unsere nördlichen Nachbarn ebenso anspricht wie den echten Wiener: erstere mit notwendigen Erklärungen zu dem nicht allerorts gebräuchlichen Vokabular, letzteren mit den durchwegs witzigen Bemerkungen dazu.