„Vielleicht werde ich so wieder ganz.
Das ist alles, was ich weiß.“ (. 9)
So heißt es zu Beginn in einer kurzen Passage, die formal und beschreibend das Experiment einleitet, in welches man als Leser:in des kleinen, aber intensiven Bandes von Sophie Reyer geworfen wird. Liest man diese Worte nach der Lektüre noch einmal, scheint es wie die treffende Beschreibung für diesen Versuch, dem die Autorin mit dieser Sammlung an Miniaturen nachgegangen ist, die sich rund um persönliche Begegnungen drehen.
Das Inhaltsverzeichnis, hinten im Buch nachgestellt, gibt den Blick auf die Struktur des Entblätterns und des Ablegens verschiedener Masken frei, welcher dieses Experiment folgt. Nach der Einleitung folgen vier Teile: Schmerzgesichter, Gesichter der Gegenwart, Gesichter der Liebe: Anfang und Ende und Ein unerfülltes Gesicht. In diesen Teilen sind jeweils Miniaturen zu unterschiedlichen Gesichtern eingefasst.
Beginnt man bei Teil eins, begegnet man dem lyrischen Ich als werdenden Menschen, als Embryo fast noch, und als Baby. Die Suche der eigenen Selbstverortung und Selbstwerdung als Mensch, in die man sich beim Lesen gerne fallen lässt, sich selbst spiegelt und befragt, resoniert in einem: Mit welchen Gesichtern gelange ich auf die Welt? Durch welche Gesichter bin ich geworden? Und welche werden mir übergestreift?
Dabei begegnen wir lesend natürlich zuerst den Eltern, bis sich, wie im Heranwachsen eines Kindes, der Gesichtskreis auf immer mehr Menschen und neue Erfahrungen ausweitet. Im Laufe des ersten Teils, im quasi Heranwachsen des erzählenden Ichs, beginnt es irgendwann zu klirren, als würde an einem alten, wackeligen Haus ein ICE vorbeifahren und das Geschirr in der Kommode zum Vibrieren bringen. Unmerklich, immer wieder ein Klirren, leise, mal anhaltender. Am Anfang nimmt man dieses Kippen im Text kaum wahr, schiebt es weg. Dann klirrt es ohne Pause, bis es unerträglich wird und einem Splitter über Splitter der Masken scharfkantig um die Ohren fliegen, die das erzählende Ich versucht, durchzugehen, abzustreifen, aufzusetzen und durch sie hindurch wie durch eine rosarote oder bläulich-grüne Sonnenbrille in die Welt zu schauen: Von der anfänglich formalen Übertragung des Experiments bleibt kaum etwas, wenn sich die Gewalt unter die Masken wirft.
„Ich erinnere mich nicht. Nicht wirklich. Nur, dass ich irgendwann im Wald aufwache. Und es ist, als würde ich da hingehören.“ (S. 30)
Einen Absatz weiter kommt die Erinnerung zurück.
„Ich erinnere mich: Gewürgt hat Arif mich. Ich werde nie wieder ein normales Körpergefühl haben.“ (Seite 30)
Diese Erkenntnis scheint für die Gesamterfahrung zu stehen und bleibt doch stehengelassen mitten im Text. Dieser Schock über das hoffnungslos verlorene Körpergefühl bleibt einem als großer Textsplitter beim Lesen im Halse stecken.
Eine weitere spannende Erscheinung, die sich im Verlauf der verschiedenen Miniaturen zeigt: die Namen. Sind es zu Beginn noch Mutter, Vater und Bruder, werden es hier reale, alltägliche Namen, die man wie zufällig gerade in der U6 oder am Schottentor gehört hat. Reinhold, Arif, Uwe, Selma… Diese Beiläufigkeit ist es vielleicht, die einem die Aufarbeitung von Gewalt so unerwartet und so direkt wie Splitter um die Ohren fliegen lässt. Sie suggeriert einem unvermittelt, dass man gerade neben der Person steht.
Der dritte Teil, Gesichter der Liebe: Anfang und Ende, der die Großmutter demaskiert, kommt wieder ohne einen konkreten Namen aus. Wie auch im vorangehenden Teil, Gesichter der Gegenwart, der sich in den Gesichtern der Gegenwart fast Linderung suchend an Frauenfiguren abarbeitet, begibt sich der dritte Teil in eine erzählende, ruhiger atmende Prosaform. Nach all den Gewalterfahrungen verkörpert die Großmutter möglicherweise eine Hoffnung auf Geborgenheit. Und auch so scheint die Großmutter die größte Linderung für das Kind der Ich-Erzählerin zu sein, über die sie sich in ein Verhältnis zu den „Großen“ setzt. Dabei schirmt die Großmutter von den Eltern ab, die in Teil eins als Erstes beschrieben wurden.
„Ich tue aber freilich so, als würde ich sie lieben. Auch ansonsten versuche ich, immer das zu machen, was die Großen auch machen. Trotzdem will ich auf keinen Fall wie sie sein.“ (S. 58)
Wenn man nun so bis zum dritten Teil gelesen hat, dann kommt man nicht umhin, sich an dieser Stelle die Frage zu stellen: Ja, dieser Schmerz, wohin bringt ihn die Autorin nur? Warum arbeitet sie sich vor mir, ihrer Leserin, so sehr daran ab? Man sucht einen Hinweis – oder man fragt sich, ob man den eigenen Impuls beim Lesen, ihr wärmendes Wasser über den vor Kälte bibbernden Leib zu gießen, ernst nehmen soll. Es braucht eine Auflösung.
„Er lächelt dich an.“ (Seite 64)
So scheint es sich kurz aufzulösen und löst doch nur eine einzelne Begegnung auf – vielleicht sogar nur scheinbar. Beim Lesen erhebt sich da die Frage: Ist das Lächeln das vermeintlich Positive, Ersehnte – oder ist es die Fortführung der Gewalt? Die restlichen Gesichter verbleiben in ihrer Beschreibung und führen zu keiner Auflösung noch Erleichterung.
Doch an dieser Stelle dreht sich der Text und lächelt einen als Leser:in quasi an. Die Auflösung, die man nach diesem Durchblättern der Gewalt sucht, impliziert die Autorin in ihrem titelgebenden Abschnitt Nach den Gesichtern und rundet in einem Epilog, der unerwarteterweise sprachlich fragmentarisch wird und wie zu zerfallen droht, dieses Experiment der gewaltsam aufgezwungenen und entrissenen Masken ab.
Ich glaube, sie ist jetzt wieder ganz. Oder etwas mehr.
Maren Sophia Streich, geboren 1993 in Berlin, lebt in Wien. Studium der Komparatistik an der HU Berlin, Gesellschaftskommunikation an der UdK Berlin, Schauspiel am Max Reinhardt Seminar und Absolvierung einiger Schreibklassen. Ihr Schreiben entwickelt sie über die Praxis im Schauspiel und begreift die Tätigkeit der verschiedenen Bereiche als Mosaik, in dem man erst denken kann. Sie schreibt Drama, Prosa und manchmal Essay. Erschienen sind ihre Texte u. a. im Process*in Magazine, Komplex Kulturmagazin und mosaik freitext. Uraufführungen im LOT/Brotfabrik Wien, Alsergrunder Kultursommer, Wiener Kultursommer und Theaterforum Schwechat, sie erhielt Stipendien der Stadt Wien und vom BMKÖS, hat das LOT in der Brotfabrik mitgegründet und aufgebaut und war bis Ende 01/2023 Teil des Leitungsteams. Außerdem schreibt sie Artikel, u. a. für die gift und bohema und arbeitet im kulturpolitischen Bereich.