Cornelia Holzinger bessert ihr Griechenlandtagebuch aus und macht daraus ein Buch. Ihr Debüt erscheint unter dem Namen Nelia Fehn. Der glücklose Verleger Gruhns setzt damit alles auf eine Karte und macht sie zu seinem „besten Pferd im Stall“. In Nachkommen. ist dieses Buch auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Darin reist Cornelia, Nelia genannt, nach Frankfurt, um an der Preisverleihung teilzunehmen – wie einst ihre verstorbene Mutter Dorothea, die unter dem Namen Dora Fehn publizierte.
Mit Die Schmerzmacherin. gelang Marlene Streeruwitz 2011 der Sprung auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises. Sie weiß also, wovon sie schreibt und was sie ablehnt. Eine Abrechnung ist dieses Buch jedoch keineswegs. Die Passagen über den deutschen Literatur- und Kunstbetrieb muten dafür zu komödiantisch an. Zickenkriege und Egomanien unter den Literaten und Literatinnen, betrunkene Adabeis, schwitzend-flirtende Verleger, desinteressierte Investoren und Investorinnen oder reaktionäre Interviewer und Interviewerinnen: derart tragikomisch, dass einem fast das Lachen vergeht, hat man das noch nie zu lesen bekommen.
Nicht Nelias Literatur interessiert, sondern die Vermarktung ihres jungen, hübschen Fräuleinwundergesichts, welches sie sich im Übrigen nicht schminken lassen will, was ihr ein schlechtes Gewissen beschert, weil sie den Job der Stylistin gefährden könnte. Mit den kleinen Wundern wird dabei aber nicht zimperlich umgegangen. Ein einflussreicher Herr des Literaturkosmos sprintet zu ihrem Messetisch und zischt ihr zu: „Ich mag euch junge Frauen nicht. Ihr glaubt wirklich, für euch gilt gar nichts. Keine Regeln, Nichts. Ihr glaubt wirklich, ihr könnt mit der Welt machen, was ihr wollt. Ihr glaubt allen Ernstes, ihr könnt mit eurem Geschreibsel einen Eindruck machen.“ Dabei will Nelia nichts als das Preisgeld für Marios‘ Operationen. Sie will nichts sein. Sie will nichts verstehen müssen. Nur sagen, was ist. Aber das wird von ihr weder erwartet noch gewollt.
Im Zentrum dieses Marktes ringt sie nach Luft. Sie stößt zwangsläufig auf gegen Frauen gerichtete Kampfhandlungen wie Ausgrenzung, Unterdrückung, Missachtung, Demütigung, Verniedlichung oder Körperreduktion. Das ist systemimmanent. Und doch oder gerade deshalb antwortet sie selbstbewusst und selbstbestimmt auf die Frage einer Interviewerin, ob sie denn eine Feministin sei:
„Nein. Ich bin keine Feministin. Dafür müsste ich heute sechzig Jahre alt sein. […] Ich würde krank werden, wenn ich das alles so einfach hinnehmen müsste. Aber ich bin sehr jung. Ich muss das alles erst erleben. Wenn Sie schon älter sind. Dann kann ich das schon verstehen. Dass Sie keine Änderungen wollen. Aber Sie sind geändert worden, und niemand sollte zu spät draufkommen, dass die Souveränität längst verlorengegangen ist.“
Die Herrschaften trinken viel Alkohol, sie Wasser. Die einen stolzieren durchs Jagdrevier, sie ist Vegetarierin. „Als Instrument des Marketings wurde der Deutsche Buchpreis erschaffen“, schrieb Streeruwitz im August im Feuilleton der Welt. Dass es Nachkommen. dennoch auf die Longlist geschafft hat, zeugt von der Güte dieses Romans.
Nachkommen. erschien im Juni dieses Jahres vor Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland. Man war also gespannt auf Nelias Debut. Dieser Kunstgriff ist exzellent ausgeklügelt. Und: Streeruwitz ist mit den Inhalten ihrer Romane offen zeitpolitisch geworden. Das Thema der Macht stand von Anfang an im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Seit Jahren geht die Autorin einige Schritte weiter. So handelt es sich bei ihrer Protagonistin Amy in Die Schmerzmacherin. um eine Aussteigerin aus einer privaten Sicherheitsfirma, die es mit der Gewalt einer brutalen und korrupten Organisation zu tun bekommt. Ein Thema, mit dem sich die Medien sowie die breite Öffentlichkeit erst jetzt auseinanderzusetzen beginnen. Streeruwitz geht es, genauso wie Nelia, um das Aufspüren und Sezieren von ungerechten, korrupten und unmenschlichen Systemen, deren Machthabern, Vollstreckern und Leidenden. Schön, dass Streeruwitz selbst in Nelias Rolle geschlüpft ist und wir somit von beiden etwas haben. Zwei Denkende, zwei Sprachen. Die eine diejenige der 1950 Geborenen, die andere diejenige der 1993 Geborenen. Die Gedankenwelt und Weltwahrnehmung einer jahrzehntelang mit Sprache Experimentierenden einerseits, die unverhohlen direkte, naiv-kämpferische, einfache Sprache einer jungen, verliebten Maturantin andererseits.
Die junge Anarchistin Nelia begibt sich aus Liebe auf eine Irrfahrt. Eine aggressive sexuelle Belästigung hält sie davon ab, das Schiff von Heraklion nach Athen zu erreichen, um mit ihrem Freund Marios für die Grundrechte von Frauen zu demonstrieren, die inhaftiert wurden, weil sie angeblich mit HIV infizierte ausländische Prostituierte seien. Wie Odysseus gerät sie auf Abwege und erlebt oder erfährt dabei Sturm und Abschaum, Brutalität und Ignoranz. Sie lernt Krisengewinner genauso kennen wie vom Schicksal Verlassene. Gestrandet auf einer Insel, haben gutbetuchte Alt-68er nicht einmal frische Kleidung für sie, während eine junge Halbgriechin, die sich als Haushälterin der eben Erwähnten über Wasser hält, sie auf der Fahrt zu einer anderen Insel begleitet und ihr eine Bluse, Tisch und Bett anbietet.
Die Welt soll durch Nelia Fehn von den armseligen Schicksalen, welche die Entscheidungen über die „Rettung“ Griechenlands einforderten, erfahren; davon, dass es sich die Korrupten in ihrer Amoral immer richten können und die anderen vor die Hunde gehen. Streeruwitz‘ Protagonistin läuft Sturm. Sie will nicht verstehen, dass „98 Prozent der Nichtshabenden sich den Interessen der 2 Prozent der Alleshabenden unterwarfen und dem Auftrag zur Selbstvernichtung so willfährig entgegenkamen“, wie Nelia in Frankfurt denkt. Endlich in Athen, gerät die junge Heldin in den Strudel der politischen Verwicklungen. Umringt von Kampfliedern, wütenden Demonstranten und Demonstrantinnen, Wasserwerfern und Tränengas wird sie niedergestoßen und ins Gefängnis abtransportiert. Als Österreicherin kommt sie bald frei und macht sich auf die Suche nach Marios. Sie findet den Verkrüppelten. Aus Geldmangel und wegen Überwachung sind sie „aus jeder öffentlichen Möglichkeit von Transport und medizinischer Versorgung“ ausgeschlossen. So enden die jungen Heldinnen und Helden. Hoffnungsträger gibt es nicht.
Auch in Nachkommen. geht es in einer Parallelgeschichte um eine Suche oder besser gesagt: ein Gefunden-werden. Nelia trifft zum ersten Mal ihren Vater, der sich nun, auf der Buchmesse, für sie zu interessieren scheint. Durch ihn erfährt sie mehr über die Geschichte ihrer toten Mutter und somit über ihre eigene. Dora musste sich entscheiden zwischen Nelias Vater oder Nelia. Er hatte das Kind nicht gewollt. Der Vater entpuppt sich als gebildeter Charmeur, der sich gern in der Rolle des eingeengten Einsamen sieht, es jedoch blendend versteht, Frauen an sich zu binden und in elitärer Abhängigkeit zu halten. Auf seiner privaten Buchpreisparty, die er als namhafter Literaturprofessor gibt, fühlt sie sich beäugt und angefeindet. Auch er ist einer, der Kunstspektakel und Kunstvorführung mit Kunst verwechselt: „Das waren alles diese alten Wölfe von 68ern, die jetzt ins Rudel zurückkrochen“. Die Suche nach dem eigenen Weg wird begleitet von der zerstörerischen Macht der eigenen Herkunft und der Suche nach den Möglichkeiten für einen Ausweg daraus.
Einsam und verlassen schleicht sie sich davon, irrt durch die Frankfurter Villengegend und macht sich in der Biotonne eines Supermarkts auf die Suche nach Essbarem. Ständig friert sie. Im Gepäck nichts Wärmendes. Nur die geerbte Schuld des Nazi-Opis, eines Kameraden von Waldheim, der am Morgen begraben wurde. Das wird sie nicht los. Die Kälte Frankfurts ist allgegenwärtig. Und in den Bürohausschluchten ist kein Second-Hand-Shop auszumachen, um etwas Leistbares zu erstehen.
Um Unaussprechliches beschreibbar zu machen verdichtet Streeruwitz die Sprache und spielt mit ihr. In Wiederholungen und Ellipsen wirbeln Nelias Gedanken und körperliche Empfindungen übers Papier. Kein Ort um auszuruhen. Und trotz der vielen Punkte ist kein Ende in Sicht. Das Unsagbare muss hinaus. Die patriarchale Sprache der Väter und Großväter vermag das nicht. So heißt es in Streeruwitz‘ Poetik.:
„Ich habe durch die Notwendigkeit des Akts der Beschreibung eines Unsagbaren im Ausdruck zu Kunstmitteln wie Stille, Pause, dem Punkt als Würgemal und dem Zitat als Fluchtmittel gefunden, um damit dem Unsagbaren zur Erscheinung zu verhelfen. Und das Unsagbare zumindest in ein Beschreibbares zu zwingen. Die bedeutungsbildenden Möglichkeiten der Leere auszuschöpfen.“
Marlene Streeruwitz vermag es, komplexe Machtstrukturen über Alltägliches und gemeinhin gewöhnliche oder auch gewohnte Umgangsformen zu entlarven. Ihre Brillanz, Raffinesse und sprachliche Genauigkeit haben Marlene Streeruwitz zu einer der wichtigsten heutigen Autorinnen und Autoren im deutschsprachigen Raum gemacht.