#Lyrik

Neue Tage

Lydia Steinbacher

// Rezension von Marcus Neuert

Das dünne Eis Erwartung

Nach ihrem Roman Wolgaland, der im Jahr 2022 bei Septime erschien und in dem sich Lydia Steinbacher zum ersten Mal der literarischen Langform zuwandte, hat sie nun wieder einen Gedichtband vorgelegt, ihren dritten nach silex (Verlag Berger, 2014) und dem vielbeachteten Im Grunde sind wir sehr verschieden (Limbus, 2017).

Seit ihrer bemerkenswerten Sammlung von Erzählungen Schalenmenschen (2019) erscheint ihr Werk im Septime Verlag. Das scheint auf seine Weise ein Glücksfall zu sein, gibt das Haus der Autorin doch offenbar genau den Raum, den sie braucht, sich literarisch weiter zu entfalten. Ihr eigen ist eine sich durch alle literarischen Formen ziehende poetische Ausdrucksweise, die schon in jungen Jahren erstaunlich rund und von einer zeitlos anmutenden Universalität ist, die jedoch nie in Gefahr gerät, durch ihre Eleganz an Tiefgang zu verlieren.

In einem Interview sprach Steinbacher in Bezug auf ihrem Roman von dem Versuch, „ein Ganzes mit einer Vielzahl von Verweisen zu schaffen“, eine Charakterisierung, die ebenso auch auf ihren aktuellen Gedichtband zutrifft. Die Abfolge der Texte folgt mehr einem assoziativen Muster, es gibt keine einzelnen Kapitel, sondern ein den Gedichten innewohnendes Netz von Motiven, die anklingen, abtauchen, um andernorts wieder aufzuscheinen.

Mitunter bildet sich über mehrere der Texte hinweg eine Art semantischer Kette; etwa gleich zu Beginn, wo sich zum „Tintinnabulum“, (ein Prozessionsglöckchen, S. 5) noch die „Dornen“ (S. 6), das „Kreuz“ (S. 7), das „Gericht“ (S. 8) und die „alte Sprache“ (S. 9) gesellen, um im sechsten Gedicht „[a]m lebendigen Leib“ (S. 10) gewissermaßen wieder auszuklingen. In keinem dieser Gedichte geht es jedoch vordergründig um das Christentum oder den Glauben allgemein – es ließen sich auch andere Begriffsketten finden, um die Texte miteinander in Beziehung zu setzen.
So korrespondiert etwa auf einer ganz anderen Ebene das „Einbruchseis am Teich“ (S. 5) im ersten Gedicht mit den „Waldbächen“ (S. 6), dem „Donaugeschiebe“ (S. 7), ja selbst mit dem „Kaffeerest ausgebadet“ (S. 8), den „Steinen im Fluss“ (S. 9) und „Meer / Ebbezeit“ (S. 10) der folgenden Texte. Und dennoch ist dieses Spiel alles andere als beliebig: es schafft Text in seiner ursprünglichen Bedeutungsherkunft: Textur, Verwobensein, einen geheimnisvollen Zusammenhang.
Und dem Geheimnis geben die Gedichte von Lydia Steinbacher weiten Raum. Vieles erscheint verrätselt, obwohl die Dichterin eher selten mit den syntaktischen Sprengungen arbeitet, welche uns so häufig in zeitgenössischer lyrischer Sprache begegnen: es ergeben sich oft ganze Sätze, deren Sinn in sich und, öfters noch, durch ihren jeweiligen Kontext immer wieder in Frage zu stehen scheint, wie etwa im Titelgedicht:

 

Neue Tage
Es ragt den Frauen und Männern unbeherrschbar aus der Hand
das Neuerworbene ist ungezähmt und wandelt seinen Zweck
nur ein Philister zittert an dem Übertritt zu neuen Tagen

Schon umgepflügt stößt dieses Feld den Schmerz von sich
wenn jetzt die Feder in die Städte leere Fluren schreibt
Zeit und Waffe ändern ihre Richtung mit den Bösewichten […] (S. 41)

 

Der Ton dieser Lyrik ist oft melancholisch, sinnend, und verströmt eine Atmosphäre von menschlichem Ausgesetztsein, einer Art existenzieller Unbehaustheit. Das Ich, das Du erscheinen als angreifbare Wesenheiten, die ihren Schutz noch am ehesten in der Sprache finden. Doch auch die bietet keine Gewähr für irgendetwas, nicht einmal im Abglanz eines heimatlichen Dialekts: „[…]Die Strophen sind so hart erkämpft […] wia valåssn i bin“ (S. 39).

Wer schnelle Antworten sucht, wird bei Lydia Steinbacher nicht fündig werden. Ihre Gedichte erfordern die Geduld mehr-, vielleicht sogar vielfachen Lesens, will man unbedingt einen greifbaren Sinn aus ihnen herauslesen. Die Gefahr scheint dabei allerdings eher zu sein, dass man einen Sinn hineinliest. Einer sehenswerten zweisprachigen Onlinelesung schickt die Lyrikerin voraus, dass es gerade „die Vielzahl von Assoziationen und Bezügen auf engstem Raum“ sei, die sie schätze – und in der Tat überlässt sie den Aufbau dieser Assoziationsketten und das Erkennen von Bezügen ihrem Lesepublikum. So mag ein jeweils individuelles Ausinterpretieren der Texte legitim sein. Doch eher wird man ihren Gedichten gerecht, wenn man sich bedingungslos vom Strom der Worte, von ihrem Rhythmus (der zwar meist frei, aber sehr strukturiert zutage tritt) und den aufsteigenden Bildern tragen lässt, sich der erdichteten Welt überantwortet:

 

Das ist Vertrauen
Im Sturmtief durch das Knarren der Bäume zu spazieren
auch in die Sprödigkeit und in das Nachgeben
im entscheidenden Moment
zu verlieren (S. 88)

Zwischen die längeren Gedichte sind in unregelmäßigen Abständen zwei-, drei-, maximal vierzeilige Kurzgedichte eingestreut, die wie Wegmarken in Lydia Steinbachers langem lyrischen Fluss wirken, aphoristische Einsprengsel vermeintlicher Eindeutigkeit, die beim Wiederlesen jedoch den gleichen semantisch changierenden Effekt haben wie die längeren Texte:

 

Nun ist die Zeit vergangen

Wer jetzt noch sein Versteck behält
wird nicht mehr gefunden (S. 47).

 

Was zunächst als Warnung wirkt, einen Augenblick nicht zu verpassen, an einem Spiel, gar an der Welt teilzuhaben, entpuppt sich aufs zweite Ansehen als ein Versprechen von (allerdings vielleicht auch nur vermeintlicher und vorübergehender) Sicherheit. Denn der Gesamtzusammenhang des Gedichtbandes scheint doch eher auf die Unwägbarkeit alles Bestehenden zu verweisen: „[…] Kein Ort winkt mir zum Bleiben / auch dieser Unterschlupf / drängt nur zum Schritt / ins Freie“ (S. 112).

Doch die unerfüllte, vielleicht unerfüllbare Sehnsucht nach diesem Ort bleibt bestehen, auch im menschlichen Gegenüber: „hier deine Wünsche ausgeflüstert, oder einer: Ich will heim“ (S. 117), heißt es im letzten Text des Gedichtbands. So stehen das Ich und das Du als einander nicht verlässliche Existenzen letztlich unverwandt gegenüber – aber auch hierin liegt eine Chance: […] soll ich das dünne Eis Erwartung sein? / ich bräche schnell – wie alles enttäuscht – / ich hielte dich nicht länger auf“ (S. 117). Auch eine temporäre Zweisamkeit entbindet nicht vor der Verantwortung für den eigenen Weg.

Diese Ambiguität zwischen Hoffnung und Bitternis scheint auch in den schönen floralen Schwarzweiß-Illustrationen auf, die Lydia Steinbacher ihren Neue[n] Tage[n] selbst mit auf den Weg gegeben hat und die diesen nachdenklichen Lyrikband auch zu einem optischen Genuss machen.

Marcus Neuert, geboren 1963 in Frankfurt am Main, Studium der Kulturwissenschaften an der FU Hagen, lebt und arbeitet nach langjährigen Stationen in Hessen und Baden-Württemberg als Autor, Musiker, Literaturkritiker und Kulturarbeiter in Minden/Westfalen und Coswig bei Dresden. Für seine Texte, die in zahlreichen Anthologien und Literaturzeitschriften sowie in mehreren Einzelpublikationen veröffentlicht wurden (zuletzt: Imaginauten. Ein Morbidarium in 21 Erzählungen. Free Pen Verlag, Bonn 2018 sowie fischmaeuler. schaumrelief. anagrammatische miniaturen. edition offenes feld, Dortmund 2021), erhielt er u. a. Auszeichnungen bei PostPoetry NRW (2014 und 2022), beim Ulrich-Grasnick-Lyrikpreis (2017) und beim Lyrikpreis Meran (2021). Weitere Infos unter marcusneuert.jimdofree.com.

Lydia Steinbacher Neue Tage
Gedichte.
Wien: Septime Verlag, 2024.

120 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-99120-038-3.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autorin sowie einer Leseprobe

Lydia Steinbacher auf Versopolis

Rezension vom 12.07.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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