Der Auftakt der Traditionskette ist bei Homer zu finden. „Niemand“, antwortet Odysseus, der Listenreiche, auf die Frage des Zyklopen Polyphem, wer ihn geblendet habe und entzieht sich damit der Rache der Zyklopen. Eine listige Sprach-Finte, die aber auch für ihren Erfinder eine Tücke birgt. Denn kaum der vermeintlichen Reichweite der Zyklopen entkommen, kann Odysseus nicht an sich halten, seine wirkliche Identität preiszugeben. Vielleicht aus Schadenfreude über den geglückten Coup, vielleicht aber doch auch aus Angst, tatsächlich seine Identität zu verlieren und zum Niemand zu werden. Für die Literaturgeschichte war Odysseus nachträgliche Selbstenttarnung jedenfalls von entscheidender Bedeutung: erst jetzt kann Polyphem jenen Fluch aussprechen und richtig adressieren, der die Stationen der Odyssee einleitet. Schon in der Antike eröffnet diese weltliterarische Urszene, die mit der unklaren Referenz des Pseudo-Namens „Niemand“ den Verlust der Eindeutigkeit von Sprache exemplarisch vorführt, eine Reihe von Adaptionen, etwa von Aristophanes, Euripides oder Lukian.
Ein zweiter Kristallisationspunkt in der Figurenkarriere setzt Ende des 13. Jahrhunderts mit dem „Heiligen Niemand“ ein. Radulphus von Anjou stellte als erster Niemand-Zitate aus biblischen Texten zusammen, die nach dem Muster „Niemand ist ohne Sünde“, „Niemand ist wie Gott“ ein satirisches, auch gesellschafts- und kirchenkritisches Figurenporträt neuen Zuschnitts entwerfen. Bis ins 16. Jahrhundert sind Zeugnisse dieser Traditionslinie nachzuweisen. Daneben findet die Figur des „Niemand“ – zumal in der Zeit des Konfessionsstreits – zunehmend als Pseudonym und Autorenmaske Verwendung.
Im 16. Jahrhundert bildet sich auch die dritte Achse der klassischen „Niemand“-Texte heraus, der sog. „Niemand des Hausgesindes“. Gemeint ist damit die vor allem in Flugschriften und Emblemata-Sammlungen der frühen Neuzeit verwendete Figuration des Verhältnisses Herr / Dienstboten: Was immer sich an Unglück in einem Hauswesen ereignet, immer hat es der „Niemand“ getan – figural als Angehöriger der Unterschicht festgemacht. Der pädagogische Zeigefinger weist dabei durchaus in beide Richtungen. Eine Weiterentwicklung erfährt diese Konfiguration vor allem in dramatischen Bearbeitungen, im Jesuitendrama sowohl wie in den Wanderbühnenstücken, vor allem auch im englischen Sprachraum, wo sich das Wortspiel niemand / jemand (no-body / some-body) aufgrund seiner sprachlichen „Körperlichkeit“ als besonders furchtbar erwies.
Frickes Ausführungen zu diesen drei Ausformungen der „Niemand“-Figur umfassen mit mehr als 200 Seiten beinahe die Hälfte des Bandes. Daß sie trotz des mitunter etwas sperrigen Forschungsgegenstandes an keiner Stelle langweilig werden, verdankt sich der luziden, Repetitives vermeidenden Präsentation und der Tatsache, daß viele der schwer auffindbaren Texte im Anhang ganz oder auszugsweise abgedruckt sind und die Interpretationen damit unmittelbar überprüfbar werden.
Der zweite Teil des Bandes beschäftigt sich mit dem Schicksal der „Niemand“-Figur im 20. Jahrhundert, wo sie stärker psychologisiert und oft ins Innere der Figuren, in die Problematik Identitätsfindung / Identitätsverlust verlagert wird. Erstmals findet sich die Verschleierung der Personenstruktur als Programm in Annette von Droste-Hülshoffs Die Judenbuche: die Unschärfe zwischen Friedrich und seinem Alter ego Johannes Niemand läßt die Bezüge zur Mordhandlung im Unklaren. Mit unterschiedlicher Ausführlichkeit analysiert Fricke in der Folge Texte so unterschiedlicher Autoren wie Franz Kafka (u. a. das Gracchus-Fragment, dem auch das Titelzitat des Buches entstammt), Luigi Pirandello (Einer, keiner, hunderttausend), Max Frisch (Stiller), Botho Strauß (Ihr Brief zur Hochzeit), Philip Roth (Täuschung) und Per Olov Enquist (Kapitän Nemos Bibliothek). Besonders detailliert entwickelt Fricke die Adaption der „Niemand“-Figur für die literarische Darstellung schizophrener Strukturen anhand der Erzählsammulung Uhren und Meere des kaum mehr bekannten Autors und Psychiatriepatienten Harald Kaas, der 1979 den Gryphius-Preis und 1980 den Marbacher Literaturpreis erhalten hat. Der lezte Hauptteil, der dem „Niemand“-Begriff als poetologischem Prinzip in der Lyrik von Ezra Pound, Hans Magnus Enzensberger, Paul Celan und Gottfried Benn nachspürt, birgt zwar durchaus spannende Einzelanalysen aber – wie der Autor auch selbst betont – kaum verallgemeinerbare Ansätze.
Das kurze Abschlußresumee bietet für den eiligen Informationssuchenden einen sehr brauchbaren groben Orientierungsraster. Hinweise auf weiterführende Informationen können mühelos dem sorgfältig und übersichtlich gestalteten 30seitigen Literaturverzeichnis entnommen werden.