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nihilum album

Oswald Egger

// Rezension von Helmut Sturm

„Wir schlugen uns / durch Gräser / und stiegen auf hohe / kleine Hügel.“
Ich habe die Seite 86 aufgeschlagen, unter dem heutigen Datum, 7.22, finden sich wie für jeden Tag des Jahres zehn Vierzeiler, den zweiten davon habe ich eben zitiert. Die Ordnung in „nihilum album“ ist vorgegeben, durch das Sonnenjahr, und willkürlich-zufällig zugleich.

„Sich durch Gräser schlagen“ evoziert das Bild des Menschen, der in einem Dschungel sich mühsam einen Weg (zu welchem Ziel?) bahnt. Ähnliches widerfährt uns, schlagen wir das Buch auf. In vier Spalten nebeneinander steht der Wildwuchs der Gedichte, dazu verleitend die Leserichtung auf eigene Faust zu wählen. Wie Orientierungspunkte dazwischen „hohe / kleine Hügel“, Siglen, die aus jeweils vier Strichen bestehen, die sich an einem Punkt berühren, an Landkarten, Sonnen, Schriftzeichen erinnern. Chiffren als Markierungen einer geheimen Ordnung.

Vergeblich suchen wir die Wörter der Tageszeitungen, weder Gewerkschaftsbank noch Abschussgenehmigung oder Terroranschlag entdecken wir. Die Welt, die dieses aus 3650 Gedichtatomen zusammengesetzte Großgedicht vorstellt, besteht aus einfachen Dingen, Feder, Gras, Teich, Wasser, Kamine, Rosen … Daneben freilich lesen wir von Pfoten-Mond, Strick-Scheit, Schischlick und Wundbock-Hund. Es ist die große Kunst Oswald Eggers einen Raum zu entwerfen, durch den wir als Leser ein lyrisches Ich begleiten, mit dem sich zu identifizieren nicht schwer fällt. Dieser Ort ist geheimnisvoll und bekannt. Ein Blick durch die exakte Linse der Poesie, verwirrend, irritierend und bedeutend, wie nur Wissenschaft zu sein glaubt.

Die vierzeilige Form ist archaisch. Gewöhnliche Rede wird systematisch verfremdet durch Enjambements, manchmal durch Assonanzen, Alliterationen, Reime. Eine wunderbare Welt der Komposita. Dass die Texte musikalische Qualität haben, beweist auch die beigelegte CD, auf der Oswald Egger in der Regie von Iris Drögekamp 365 „Stanzen“ (ein Hinweis auf Ernst Jandl?) vorträgt. Manuel Braun als Tonmeister hat da im SWR-Studio Freiburg ein faszinierendes Hörerlebnis produziert, der mehr ist als eine modische Beigabe zum Gedichtband.

Wie ist das Buch zu benutzen? Klar kann man es von vorne nach hinten durchwandern. Ein langer Weg, zumal wir immer wieder pausieren müssen, rasten in unwegsamem Gelände. „Ich ging und ging / zu auf / die Birke, Trink- / Queller’t-Linsen.“ Iris Drögekamp ist „im Schatten des Pythagoras“ gewandert, hat 365 Texte nach einem Schlüssel ausgewählt, der einer mathematischen Ästhetik folgt. Dabei hat sie manche Gedichte ineinandergeschoben, sich überdecken lassen, sodass sie sich zu Wortbergen aufhöhen. So gewinnt der Textkorpus eine kabbalistische Qualität, die ahnen und staunen lässt. Da ist nicht einfach ein Raunen (es hört sich für manchen vielleicht so an), nicht spätromantische Irrationalität. Aber es tut sich ein Zugang zur Welt auf, den medial vermittelte Urlaubsromantik und naturwissenschaftlicher Zugriff vergessen zu machen im Gange sind.

Ich habe das Buch wie ein Horoskop gelesen, es so weit ernst genommen, als es zum Nachdenken über mich und vielleicht meine Lebensmenschen anregt, ein Werkzeug bietet, um an Welterfahrung zu gewinnen. „Ich ging und ging / zwischen / Hang-Hügeln / und Wiesen. // Wie lang wirst du / durch diese Ebenen / wandern, im Winter, / waten in den Flüssen?“

Die Zinkblume (nihilum album) entsteht bei der Erstarrung von Zinküberzügen als bizarre Oberflächenausbildung. Man hat das Zinkoxyd auch als Heilmittel, etwa gegen Epilepsie und Neuralgien, benutzt. Oswald Eggers mystische Kalendergedichte verweisen auf das bizarre Wunder der Oberfläche, darüber hinaus lässt er das Schweigen gelten, oder vertreibt sich die Zeit mit Liedern: „Ich wart auf / dich, im Wind gekrümmt / und sing fast / fünfzig Lieder.“

Oswald Egger nihilum album
Lieder und Gedichte.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007.
150 S.; geb.; mit CD.
ISBN 978-3-518-41871-0.

Rezension vom 23.07.2007

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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