#Roman

Nur Briefe

Harald Kollegger

// Rezension von Marcus Neuert

Wie kommt ausgerechnet ein Eishockeyprofi der 1930er-Jahre (nämlich der Kurgan-Opa, der Protagonist des Romans) dazu, sich mit Dichtern und Weisen wie Lao Tse, Omar Khajjam und Thomas Brasch auseinanderzusetzen? Vermutlich aus dem selben Grund, aus dem heraus ein Professor für klinische Neurologie (nämlich der Autor Harald Kollegger) zum Verfasser feinsinniger Prosa wird. Oder man erinnere sich an den Kabarettisten Werner Schneyder, bei dem Boxleidenschaft und Literatur so wunderbar bruchlos zusammengehen. Das Leben versammelt mitunter die scheinbar widerstreitendsten Interessen und Neigungen in einer Person und dokumentiert damit, wie abhängig allen logischen Erwägungen zum Trotz Feuer und Eis voneinander sein können.

Der Roman Nur Briefe, den der 1955 in Bruck an der Mur geborene Harald Kollegger  im Wiener Löcker Verlag vorgelegt hat, handelt nicht zuletzt auch von genau diesem Gegensatz, der als metaphorische Klammer die gesammelten Lebenserfahrungen des Kurgan-Opas umspannt. Dieser, der „so alt ist wie das Jahrhundert“, erneuert im Jahr 1978 den Kontakt zu seinem in Wien Architektur studierenden Enkel Oskar, von dem er menschlich deutlich mehr zu halten scheint als von seinem Sohn, Oskars Vater.
Die Briefe, die der Großvater schreibt, bleiben zunächst unbeantwortet; als sich der anfangs skeptische Oskar jedoch dazu durchringt, sich auf die gleiche Kommunikationsform einzulassen, entsteht ein reger Austausch von Weltsicht und Weltsichtung über drei Generationen hinweg, wobei die direkte Sicht auf das Geschehen und Erinnern von der Figur des Großvaters ausgeht – der Leser erfährt aus dessen insgesamt 78 Briefen den Fortgang der Geschichte, nur ganz zum Schluss sind noch drei posthume Schreiben Oskars beigeordnet, um „die Zahl 81, die Lao Tse angezogen hat, voll zu machen“ (S.192) und damit, vielleicht ein wenig überreichlich bedeutungsaufgeladen, auf die Anzahl der Abschnitte des Tao-Te-King zu kommen.

Überhaupt hat es dem Autor offenbar nicht nur die Zahlenmetaphorik angetan: Die Tatsache beispielsweise, dass der Großvater genetisch nachgewiesernermaßen von der sogenannten „Kurgan-Kultur“ abstammt, einer halbnomadisch lebenden und sprachlich hochentwickelten Gesellschaft, die vor mehr als zehntausend Jahren aus Asien nach Europa einwanderte, scheint so recht zu seinen geschliffenen Briefen und zu seinen geistig agilen Wanderbewegungen zu passen, und so lässt Kollegger ihn die scherzhafte Eigenbezeichnung Kurgan-Opa wählen.
Dessen Schreiben an den Enkel, denen er gewöhnlich noch Gedichte zum gedanklichen Weiterspinnen beifügt, entpuppen sich zunächst als ein Kaleidoskop irrwitziger Petitessen, sie wissen von der rätselhaften Zusammenkettung zweier Fahrräder über Wochen hinweg ebenso zu berichten wie von Otto Schenk’schen Wortverdehern (der Schweizer schießt – der Schwyzer scheißt – der Scheißer schwitzt).
Aber auch die großen Tragödien seines Lebens reflektiert der Großvater in seinen Zeilen, den Unfalltod seiner Frau, seinen eigenen ungeschickten, tragikomischen Selbstmordversuch, die Auseinandersetzungen mit seinem Vater und seinem Sohn. Er wird so gleichermaßen zum Gesprächspartner auf Augenhöhe wie auch zum Ratgeber seines Enkels, der lernen muss, mit den eigenen Wirrnissen des Schicksals umzugehen, seien es Probleme im Beruf, Liebeskummer oder seine exzessive Spielsucht. Oskar, der sich anfangs erst zögernd, dann jedoch immer begeisterter auf diesen innigen Dialog einläßt, kann zum Schluss, als der Kurgan-Opa gestorben ist, in einer seiner nachgerufenen Zeilen bekennen: „Ich vermisse deine Briefe, ich vermisse dich und deine bedingungslose Liebe, als wäre ich dismembered, als hätte ich einen Arm, ein Bein oder einen Fürsprecher verloren.“ (S.192)

Kollegger verwebt geschickt die persönlichen Erinnerungen des Großvaters, deren Reflexion einen Großteil der Briefinhalte ausmacht, immer wieder mit geschichtlichen Begebenheiten, wobei die Zeit von Austrofaschismus und Drittem Reich nicht (wie so oft in vergleichbarer Literatur) der Dreh-und Angelpunkt ist: zwar wird sie niemals ausgeblendet, erscheint aber auch nicht explizit als das eine allumfassende Trauma, welches es auf- oder abzuarbeiten gilt. Vielmehr reibt sich die Gesellschaftskritik des Kurgan-Opa (als Spiegel seiner praktischen Veranlagung?) an den Verlogenheiten der Nachkriegs- und der erzählten Jetzt-Zeit, die freilich die Zeit von 1978/79 ist, jedoch die Entwicklungen im frühen 21. Jahrhundert schon vorauszuahnen beginnt. So geißelt sie gleichermaßen die offenbar schon damals gängige Praxis unbezahlter Praktikantenstellen wie die unmäßige Gier des allgegenwärtigen Finanzkapitalismus und führt dem Leser einmal mehr vor Augen, dass die Steine des Anstoßes und des Anstößigen vor 35 Jahren offenbar nicht grundsätzlich verschieden waren von den heutigen.

Harald Kollegger ist mit seinen 81 Miniaturen eine Hommage an die Lebensklugheit und an intensive, langsame Kommunikationsformen gelungen – wohltuend in einer Zeit, in der sich Großeltern bei Facebook anmelden müssen, um mit ihren Enkeln in Verbindung bleiben zu können – und nicht zuletzt an die Wirkmächtigkeit des täglichen Gedichts.
Ein schönes, waches Buch zwischen Zorn und ironisierender Heiterkeit, leiser Melancholie und derbem Witz, messerscharfer Analyse und zahlreichen metaphorischen Anspielungen – auf seine ureigene Weise eben selbst ein Buch aus Feuer und Eis.

Harald Kollegger Nur Briefe
81 Miniaturen – Roman in Briefen.
Wien: edition pen im Löcker Verlag, 2012.
198 S.; brosch.
ISBN 978-3-85409-635-1.

Rezension vom 06.11.2012

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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