A.
Wie ALT. Sogar von Alexander Widner selbst ließe ich mir nicht über den Mund fahren, wenn ich sage, dass seine AUFZEICHNUNGEN eine Art ALTERSWEISHEIT sind. Es stellt sich ein Jenseitiger dar, also einer, der Berufsausübung, Karrierestreben, Liebeswerben usw. schon hinter sich hat. „Im Anfang war die Kraft. … Am Ende war das Wort“ lautet es in einem Widner-Aphorismus (S. 11). Zwar wird am Beginn einmal eine Kindheitserinnerung abgehandelt, „Der Krieg war zu Ende…“ (S. 14), vom Vater und vom Hahnschlachten ist die Rede, dann kehrt der Fluß der Aufzeichnungen sich nur mehr sporadisch zu Vergangenem, splitterhaft, nach der Devise: „Jetzt, gegen Ende eines idiotischen Lebens, malträtiert mich Erinnerung.“ (S. 17)
Die einzelnen Aufzeichnungen, Erinnerungs-, Reise-, Lektüresplitter, großteils als APHORISMEN gehalten, atmen – manches Mal erschreckende – AUFRICHTIGKEIT. Sie umkreisen das Alter, das Sterbenmüssen. Das Ich kühlt nicht bloß am Tod sein Mütchen, auch mit sich selbst geht es nicht pietätvoll um, sondern ungeniert. Mit Fressen, Scheißen, Arsch und dergleichen wird nicht gespart. Es entfaltet sich eine Ästhetik der Misanthropie. Das Ich ist ein lupenreiner Griesgram. Es stellt sich schonungslos aus, schimpft sich die Widrigkeiten des eigenen Lebens und der Umstände vom Hals.
Kalauer produzieren und davon gut leben, das könnte Widners Kunst, das verschmäht sie aber. Sie steigert sich in Tiraden, die an Thomas Bernhard gemahnen, wofür sich das Ich wieder selber nicht mag. Aufgehoben und ausgelöscht werden die Schimpftiraden im zugespitzten, im ‚gehämmerten Aphorismus‘ (wie Musil das genannt hat). In den kurzen, zugeschliffenen Sentenzen bringt das Ich die APORIE seiner Existenz am verblüffendsten, am besten zum Ausdruck (siehe Leseprobe 1), aus dem Ephemeren wächst Wesentliches, das Wesentliche erschöpft sich im Ephemeren, das ist der Dreh. Die Pose des Griesgrams und die des Lichtenbergschen Altersweisheitskünders gehören zusammen, der Lesende wird von einem zum andern gestoßen (weshalb die Lektüre auch dauert).
A.S.
Wie ADALBERT STIFTER. Ich weiß, dass Alexander Widner sich ganz gern mit dem Aufklärer Lichtenberg in eine Reihe gestellt sieht, ich denke, dass ihn auch der Verweis auf den Pessimisten Schopenhauer nicht stören würde, dass er den Bezug zu Thomas Bernhard (ein „abgeschlecktes Liebkind von Berlin bis ins Salzkammergut“ S. 138) nicht schätzt, – nun muss er den Stifter-Vergleich hinnehmen. Also nein: wie ANTI STIFTER, der ANDERE Stifter, das ABGRÜNDIGE Biedermeier? Der Stifter-Vergleich bringt ein Dilemma zum Ausdruck: Widner selbst fragt danach: „Ein Tanz auf dem Vulkan?“ (S. 167) Wir heutigen Leser wollen nicht den STURM im Wasserglas, wir wollen die Aussöhnung nicht, wir wollen die Altersweisheitspose kippen sehen. Es brodelt: „Mein Körper schreit nach Fleisch, Fleisch.“ (S. 142) Das Schreiben ist das Substitut, die Ersatzdroge, die das Ich sich hineinzieht wie die Unmengen ärztlich verordneter Medikamente (S. 164). Das Ansuchen um ein Stipendium ist „eigentlich unwürdig in meinem Alter, aber erstens ist mir Würde egal, […] und zweitens bin ich alt […] und drittens brauch ich Geld. Geld, Geld, sonst nichts.“
Die tröstende Illusion unterbleibt, das Alter versöhnt nicht. Auch der Ausbruch unterbleibt, von dem es kein Zurück mehr gäbe in relative Geborgenheit. Ein Aphorismus verkündet programmatisch: „Anpassung und Auflehnung gehen immer Hand in Hand oder zumindest Hand in Fuß.“ (S. 132) Die Häme gegen die „Staatswarzen“, wie die Politiker bei Widner heißen, bleibt eine von innen heraus vorgetragene, die Kritik am System des Literatur- und Kulturbetriebs kann sich selbst, den Kulturbeamten a. D. der Stadt Klagenfurt, nie ganz ausnehmen.
Ich bin als Leser einen ‚aphoristischen Pakt‘ mit Alexander Widner eingegangen, in Analogie zum ‚autobiographischen Pakt‘ bei Romanen, wo ich stillschweigend den Autor als Helden voraussetze und die fiktiven Erlebnisse als meine eigenen imaginiere, was ich als Literaturwissenschaftler nicht tun darf, worin ich mich aber als Leser so richtig suhle.
Der Pakt mit dem Aphoristiker besteht nun darin, die Wirklichkeitserfahrung, die sich in den Aufzeichnungen niederschlägt, die, nebenbei bemerkt, (fast) völlig ohne das Moment der Fiktion auskommen, auf ihre ‚Aufrichtigkeit‘ überprüft als mögliche eigene anzunehmen und wegen des ‚Altersvorsprungs‘ als bald schon eigene zu antizipieren und dabei vorauszusetzen, dass ich als Leser die Erfahrung der Wirklichkeit sprachlich nicht so zu verarbeiten, zu formulieren vermag wie der Aphoristiker. Dabei hilft, dass sich der Aphoristiker in den Grenzen seines Systems, meines Systems bewegt, der Bürgerlichkeit, und die Grenzen dieses Systems (der Biedermeierlichkeit?) nicht (permanent) aufsprengt.
Das Verfahren der überprüfenden Lektüre stellt den ‚aphoristischen Pakt‘ bei jeder einzelnen Betrachtung neu her, die Lektüre gerät zu einer Art von gemächlichem geistigen Stoffwechselvorgang. (Darum die sieben Monate!) Dem aphoristischen Pakt kommt im heutigen Lesebetrieb eine grundsätzliche Bedeutung zu, ich konsumiere die Aufzeichnungsliteratur der ’neuen Stifter‘ Peter Handke, Franz Schuh oder eben Alexander Widner anstelle der sogenannten Ratgeberliteratur und empfehle, es mir gleich zu tun. Sie sichern sich als Widner-Leser/in damit übrigens ein Grundrecht, nämlich das Recht auf den eigenen Grant.
NJ.
Nicht NY. Nicht New York. New York spielt in Widners Aufzeichnungen die Rolle des letzten Reiseziels. Wer erwartet hat, eine Riesenstadtbeschreibung vorzufinden, wird enttäuscht. In der Mitteilung von einigen wenigen Beobachtungen vom Broadway, der Carnegie Hall, von Grabinschriften eines Friedhofs in Brighton Beach am Ende des Buches macht sich bemerkbar, dass das aufzeichnende Ich nun angekommen ist. NY als Fluchtpunkt, als Telos. Im Verfassen von Baedeker-Texten liegt der Ehrgeiz von Widner ohnedies nicht, obwohl von Orten, Ortswechseln, Reisen in den Aufzeichnungen viel die Rede ist. Kein Wald, keine Halme, nie Natur, nirgends, es geht immer um Städte mit Namen, um deren Wirkung, der Reisende kommt als Tourist, nach Venedig zum Beispiel, um den Thomas Mannschen Mythos des Verfalls der Lagunenstadt auf seine Weise zu feiern: „Venedig. Nichts an Schönem interessiert mich dort, aber dass das Schöne verfällt, das, nur das interessiert mich. Ein Verfallender in einer verfallenden Stadt. Zwei Wochen fleddere ich diesen Körper.“ (S. 41) So beginnen die zehn Seiten ‚Was ich in Venedig sah und hörte‘.
Wie NEUJAHR. Ich habe befürchtet: die Altersbeschaulichkeit wird kippen, das Biedermeier in Anarchie umschlagen. Und sie kippt schon, und es schlägt schon um (aber nicht ganz). In der gnadenlosen Wiederkehr des Gleichen im Jahresumlauf liegt die Sollbruchstelle eingebaut. Auf Seite 145. „Feiern Sie!“ Da schickt der Dichter die Staatswanzen, uns Bürger, seine Leser, in den Wörthersee: „Schön liegt er da, unser See, wie geschaffen für den Selbstmord.“ (siehe Leseprobe 2) Ob uns der Dichter in den Tod führt oder nicht, entscheidet er auf Seite 147. Ich empfehle das Buch als Neujahrsanschaffung, etwa schon als Wegbegleiter für 2008, oder sonst für spätere Jahre, denn solche Bücher bleiben.