Denn ein E-Mail genügt, um ihn in eine existenzielle Krise zu stürzen: die Nachricht vom Selbstmord des Physikers Nikola Sahli, der sich geradezu besessen mit dem Rätsel Perpetuum mobile beschäftigt hatte, löst eine tiefe Unsicherheit in Nichol aus. Anfangs drehen sich seine Fragen in erster Linie um den Tod des Kollegen und eine mysteriöse Sekte, der er möglicherweise angehört haben könnte, doch zusehends wird die Recherche für den Protagonisten zu einer Suche nach sich selbst.
Er beginnt, seine Umgebung aufmerksamer wahrzunehmen, Menschen, die für ihn vorher bloße Statisten gewesen sind oder für die er gar eine Art Prometheus der Wissenschaft darzustellen glaubte, werden seine Führer in einer ihm bisher verborgenen Welt. Hofer, einer seiner Studenten und Mitarbeiter, ein Prototyp der Generation @, dessen Lebensweise, Weltbild und Einstellungen Nichol anfangs völlig fremd und unverständlich erscheinen, spielt zusammen mit seinen Freunden Geburtshelfer eines neuen Bewusstseins. Der abgeklärte Quantenphysiker wird wieder neugierig und offen für alles Unbekannte – allerdings auch unsicher allen bisher verfochtenen Werten gegenüber.
Auf den Spuren Sahlis fährt er nach Sarajewo, wo er die Familie des Physikers kennenlernt. Der Vater hatte bis zum Bürgerkrieg im „Old Danube House“ mit Adoptivkindern verschiedener Nationalitäten zusammengelebt, die Schwester Amra wird Johan Nichols Geliebte – bis seine Frau Marina in Sarajewo auftaucht und die beiden mit Hofer und seiner Freundin ans Meer fahren und mit einem Segelboot in die stürmische See stechen …
Es tut sich nicht wenig in Gronds Roman, aber alles geschieht sehr ruhig, fast gedämpft, das Wichtigste ist nicht das objektiv und äußerlich Erlebbare, sondern dessen subjektives Empfinden, die „experience intérieure“. Grond hat hier vermutlich den Entwicklungsroman der Jahrtausendwende vorgelegt, der subtil auf die gesellschaftlichen Probleme unserer Zeit reagiert. Und alles dreht sich um die Frage: „Wie leben und lieben in einer Welt, in der alles Vertraute umbricht?“
Der Verlust des Vertrauten wirft vice versa die Frage nach dem Fremden auf, und Johan Nichol muss tatsächlich in die „Fremde“ reisen, um „Vertrautes“ wiederzufinden. Aber diese Begriffe taugen nicht mehr, nicht zur Beschreibung der Realität und schon gar nicht, um Nichols innere Entwicklung zu skizzieren. Nach dem Literaturprojekt „Absolut Homer“ hat Grond hier wieder einen Odysseus auf die Irrfahrt geschickt – kreuz und quer durchs Internet und durch die verschlungenen Wege der Wissenschaft und der Kulturen; aber auch körperlich muss Johan Nichol sich in Bewegung setzen: Moskau, Wien, Sarajewo und die Adriaküste sind die wichtigsten Schauplätze seiner „Ich-Werdung“.
Eine besondere Leistung des Romans ist vor allem auch die literarische Verarbeitung der Generation @. Grond ist einer der ersten, wenn nicht (zumindest im deutschsprachigen Raum) der erste, der sich auf künstlerisch und philosophisch so hohem Niveau mit dem Phänomen Internet als (stark mit)bestimmendem sozialem Faktor in immer größeren Gesellschaftsschichten auseinandersetzt.
Walter Grond und der Protagonist seines Romans sind etwa im gleichen Alter. Ohne deshalb Johan Nichol gleich zum alter Ego des Autors stempeln zu wollen, haben die beiden doch einiges gemeinsam: um ein solches Buch schreiben zu können, musste sich Grond wohl ebenso wie Nichol auf „das Fremde“ einlassen, das manchmal bei genauerer Betrachtung sogar sehr vertraut erscheint, sei es das zerrissene Jugoslawien, seien es Hacker-Clubs mit ihrer Fachsprache oder eine House-Party im alten Industriehafen.
Old Danube House ist eines jener Bücher, die man immer wieder lesen kann, in denen es immer wieder etwas Neues zu entdecken gibt, und die wohl auch das Zeug zum Kultbuch haben. Und obwohl der Roman verankert ist in unserem Heute wie kaum ein anderer, sind die zentralen Fragestellen nach dem Sein und nach dem Selbst zeitlos und klassisch. Und es bleibt nur zu wünschen, dass der Roman kein Geheimtipp bleibt, sondern die Anerkennung erfährt, die ihm gebührt.