Genau um diese Ortsbestimmungen geht es im Erzählband Ort von Alfred Goubran, der im Wiener Braumüller Literaturverlag erschienen ist. Der in Graz geborene Goubran, Jahrgang 1964, ist neben seiner Tätigkeit als Schriftsteller und Herausgeber auch Verleger der edition selene. Zuletzt hat er im Jahr 2008 seine Erzählung „Tor“ im Kitab Verlag vorgelegt.
In „Ort“ sind sechs unterschiedlich lange Erzählungen enthalten, in denen es vor allem um eine nicht genannte Kleinstadt in Österreich geht. Sie wird aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben und erzählt. Diese Kleinstadt steht stellvertretend für alle Kleinstädte Österreichs, die zwischen Großstadt und Dorf stehen. So erfahren wir gleich in der ersten Erzählung „An Land“, dass ein Außenseiter – auch wenn er eine unsympathische Figur ist – von seinen Mitbürgern aus der Stadt gemobbt wird. Er verliert nicht nur seine Buchhandlung, sondern auch seine Frau, sein Kind und seine Wohnung, an der er nachts gewerkelt hat.
Während in der zweiten Erzählung „Terra Nullius – Meine Wälder“ von Zwerenz erzählt wird, der nach 20 Jahren in die besagten Kleinstadt kommt, um an der Beerdigung seines Vaters teilzunehmen. Er steigt in einem Hotel ab, wo er über Nacht an seinen Vater denkt, an die Plätze und Orte dieser Kleinstadt, was aus ihm und anderen geworden ist. Doch am frühen Morgen, nach schlaflosen Gedanken, packt er plötzlich seine Sachen und geht.
Von Erzählung zu Erzählung erfahren wir durch unterschiedliche Figuren immer mehr von diesem Ort, der sich immer mehr zu einem Unort kristallisiert. Unter der Fassade des schönen Ortes legt Goubran Schicht für Schicht erschreckende Abgründe frei. Er versteht es präzise darzustellen, wie eine Gesellschaft das Individuum unter Druck setzt. Die Mitbürger vergiften den andersartigen Einzelnen mit ihrem Gerede und ihren egozentrischen Verhaltensweisen – wie in der bereits erwähnten ersten Erzählung mit dem Buchhändler oder in der letzten Geschichte „Leuchte“, in der das Gerede thematisiert wird.
Goubran geht noch weiter und zeigt, dass diese Konventionen sich auf die nächste Generation auswirken und verheerende Folgen mit sich bringen. So weiß sich der Internatsschüler Rauch in der Erzählung „Bessere Menschen“ nicht anders zu helfen, als sich eines Morgens, während er in den Ferien bei seiner Mutter ist, ein Messer durch die Hand zu stechen, nachdem seine Mutter von ihrem Freund geschlagen wurde. Diese Verzweiflungstat resultiert aus den tagtäglichen Gewalterfahrungen im Priester-Internat, in dem Rauch widerwillig ist – man fühlt sich an „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ von Robert Musil erinnert. Aus der Gewalt der einen Generation folgert Goubran die Selbstzerstörung der nächsten, und in der Erzählung „Die Proberaumkönige“ finden wir diesen Rauch tot im Gebüsch wieder. Erschreckend, doch treffender kann man die Brutalität der Gesellschaft kaum aufzeigen.
Zudem zeigt uns Goubran, dass Orte erst zu Orten werden, wenn diese Orte erzählt werden. Sie werden erst sicht- und greifbar durch das W-ORT. Und durch die Erinnerung werden sie wieder verortet. Wie in Italo Calvinos „Die unsichtbaren Städte“, wo erst durch das Erzählen die Städte existent werden – unabhängig davon, ob sie wahrhaftig existieren oder nicht.
Goubrans einzigartige Erzählungen lassen den Leser verstört, bedrückt und hoffnungslos zurück. Nachdenkliche Literatur, die tief berührt!