Vor allem die beiden ersten Erfahrungen haben kollektiven Charakter – Österreich in seiner Gesamtheit hatte ähnliche Schwierigkeiten, sich der eigenen Geschichte zu stellen wie Bernhards Protagonisten und manche von deren Vernebelungsstrategien haben durchaus repräsentativen Charakter. Die Ausgangsthese der Untersuchung von James E. Young über die textuellen Repräsentationen des Holocaust gilt auch für die Resonanz von Bernhards Werk in Österreich: dass nämlich die Literatur bei der Verarbeitung und Aneignung der Vergangenheit einen größeren Anteil hat als die Geschichtsschreibung. Am Ende einer über Jahrzehnte laufenden Entwicklung war Bernhard einer der wichtigsten Sprecher einer – wenn auch vielfach gebrochenen – kollektiven Auseinandersetzung mit der Vergangenheit geworden.
Wie mobilisiert Bernhard das Erinnerungspotential seiner Figuren? Steffen Vogt nähert sich dieser Frage sehr langsam mit einem voluminösen theoretischen Teil, der eine generelle Theorie des Erinnerns nach 1945 entwickelt und manchmal den durch Bernhard vorgegebenen Rahmen sprengt. Bedrohliche Erinnerungen können nicht verarbeitet werden, solange sie in der Hermetik des Ichs festgemacht sind, kollektivem Erinnern eignet eine paradoxe Komponente und gerade die öffentlich gemachte schriftliche Erinnerung impliziert oft eine Zerstörung der Authentizität. Eine der Lösungsstrategien, derer sich Bernhard bediente, war – Vogt zufolge – schon dem antiken Rhetoriklehrer Quintilian bekannt, der es als „allgemeine Erfahrungstatsache“ beschrieben hat, dass man sich besonders gut an Dinge erinnern könne, wenn sie mit einem Ort in Verbindung stehen. Der Gedächtnisort und das damit verbundene topographische Erinnern sind daher – so Vogt in seinen kulturwissenschaftlichen Überlegungen, die stark von Maurice Halbwachs beeinflusst sind – zentrale Elemente, die ein kollektives Erinnern überhaupt erst möglich machen.
Tatsächlich gibt es eine Fülle von angedeuteten und deklarierten „Gedächtnisorten“ im Werk des Thomas Bernhard: vom Wald in Weng mit seinen Kriegsleichen in „Frost“ über das Haus des jüdischen Realitätenvermittlers Bloch und das Schloss Hochgobernitz mit seinem gegen nationalsozialistisch konnotierte Worte sprachallergischen ehemaligen Besitzer in „Verstörung“, die Klosterneuburgerstraße in „Gehen“, das geheimnisvolle Schloss und die Baracke in „Watten“ bis hin zum das Werk abschließenden „Heldenplatz“. Bernhard benützt mit wechselnder Präzision das Verfahren der Rekonstruktion der Gedächtnisorte, wobei Topographie und Rekonstruktion häufig mit der Struktur des im Text behandelten Konflikts zusammenhängen. Der Vollständigkeit halber sei allerdings angemerkt, dass er seinen Figuren ein recht großes Inventar von Utensilien einer vom Protagonisten des Textes oder vom Leser entschlüsselbaren Erinnerung zur Verfügung stellt – Fotos, wie in „Auslöschung“ oder gar jene geheimnisvollen Geräusche im Ohr, die in „Heldenplatz“ dekodiert werden.
Vogt behandelt jene zwei der Bernhardschen Gedächtnisorte, die Hans Höller als „Wolfsegg-Sujet“ zusammengefasst hat: das in der Erzählung „Der Italiener“ angesprochene, zunächst namenlose Schloss, das in der Filmfassung den Namen Wolfsegg erhielt, und die gleichnamige Besitzung aus „Auslöschung“. Steffen Vogt ist ein extrem akribischer Leser, er lässt sich durch die endlosen Tiraden der Protagonisten Bernhards nicht verwirren und hat einen präzisen Blick für die dahinter verborgenen Mitteilungen. Die Pfadfinder im Dschungel der Bernhard-Welt wird wohl am meisten entzücken, dass es Vogt gelungen ist, aus einigen verschlungenen Angaben Muraus den zeitlichen Rahmen von „Auslöschung“ in der „Realität“ zu fixieren – die Handlung ereignet sich zwischen dem 29.4. und dem 1.5. 1982. In der Topographie von Wolfsegg, in der Architektur, in den Spaziergängen Muraus und in den von ihm gewählten Beobachtungspunkten baut Bernhard offensichtlich mehrere Ordnungssysteme auf, die parallel zu den ihm auferlegten Konflikten strukturiert sind und die sein Erinnerungspotential mobilisieren und strukturieren – hier ist Vogt zuzustimmen. Zwei eng miteinander zusammenhängende Fragen bleiben allerdings offen: haben die an Hand von „Auslöschung“ beschriebenen Prozeduren mehr als allgemeine Verbindlichkeit für den Bernhardschen Umgang mit Gedächtnisorten und warum koppelt Vogt den „Italiener“ mit „Auslöschung“, obwohl er sehr deutlich klarstellt, dass den zu verschiedenen Zeiten entstandenen und einer sehr verschiedenen Problematik gewidmeten Texten außer einigen Motiven wie dem Spaziergang nur die fragwürdige Gleichheit der Benennung des Ortes gemeinsam ist. Der Vergleich engt gewissermaßen die Studie ein – sie wäre mit mehr Gewinn zu lesen, wenn sie sich entweder auf „Auslöschung“ beschränkte, oder auch andere bernhardsche Gedächtnisorte systematisch berücksichtigen würde.