Wenn man das Buch zum Lesen in die Hand nimmt, dann leuchtet einem vom Buchcover das Porträt eines jungen Mädchens entgegen, das, sich mit dem rechten Arm vor der Sonne schützend, etwas im Himmel zu beobachten scheint, den Rest des Körpers in gleißendes Sonnenlicht getaucht. Dieses Porträt, das in sich so modern und minimalistisch wirkt, lockt einen zu Teilen auf eine falsche Fährte, was den Inhalt des Romans betrifft, und scheint mir nach der Lektüre doch wie ein junges Mädchen, das all die Geschichten der Frauen vor sich erinnert: Vielleicht ist es wirklich Eva, die Jüngste in der Geschichte, durch die uns Anna Neata in ihrem Generationenporträt führt.
Da ist zuerst Elli, die in den Vierzigerjahren zu einer jungen Frau heranwächst. Dann ihre Tochter Alexandra, die in den Siebzigerjahren mit dem Frau-Werden kämpft. Und zuletzt deren Tochter und Ellis Enkeltochter Eva, die Anfang Zweitausend groß wird. Alle drei Frauen eint das Nicht-Ansprechen der eigenen Sorgen (und das nicht zur Verfügung stehen als Ansprechpartnerin). Alle drei Frauen eint das Vereinsamen in den Beziehungen und das Zerbrechen an den Rollenbildern, die ihnen auferlegt werden. Alle drei Frauen einen Schwangerschaften, der sie zu früh, unbeschützt und in Beziehungen ausgeliefert sind, in denen sie keine Geborgenheit finden.
„Und es war doch wirklich seltsam, dass die Welt einfach keine Pause machte.“ (Seite 304)
Der Roman springt in fünf größeren Abschnitten durch 80 Jahre Österreich und 80 Jahre Mutterschaft – Die Vierziger, Die Fünfziger, Die „Siebziger“, Die „Achtziger“ und Hier und Jetzt. Wobei nur die Siebziger und Achtziger in Anführungszeichen gesetzt sind, weil sie wohl am offensten mit den angekündigten Jahreszahlen umgehen. Ist Zeit, die weiter von uns entfernt ist, einfacher in Phasen zu unterteilen, und sind die uns näheren Jahrzehnte vielleicht noch nicht so leicht zu analysieren? Jeder dieser fünf Romanteile ist nochmal in zwei bis drei Kapitel gegliedert, immer mit einer Jahreszeit und einer Jahreszahl notiert. Zwischen den Hauptkapiteln befinden sich außerdem blitzlichtartig kurze Erzählungen aus unserer heutigen Gegenwart – oder eher aus den Nullerjahren Anfang des 21. Jahrhunderts (wobei sich der fünfte Teil des Romans mit dem Titel Hier und Jetzt den Zehnerjahren widmet). Diese „Übersicht“ gibt einem schon einen Vorgeschmack auf die Zeitreise, die das Buch unternimmt, und behält einen doch durch die Zwischenverschränkungen immer verankert am Ausgangspunkt: Wir blicken von heute aus zurück und durchleben dabei 80 Jahre. Dabei folgen wir Elli, Alexandra und Eva, die in ihren jeweiligen Zeiten erst eine junge Frau, dann Mutter und irgendwann Großmutter sind, gemeinsam und miteinander dazu werden und sich doch gegenseitig am meisten das Schweigen lehren.
„Oder dass er ihren Namen erwähnt hat und so für immer etwas kaputt gemacht hatte, was schon vorher kaum da gewesen war.“ (Seite 244)
Die Sprache des Romans ist zeitweise beiläufig und alltäglich, eindeutig österreichisch eingefärbt und bleibt doch in vielem sehr offen und bedeckt: Als wäre die Sprache nur ein vorsichtiger Träger dessen, was Anna Neata da in den Leben dieser drei Frauen aufzuspüren versucht, löst sie sich auf, sobald sie die Bilder gemalt hat. Oder konkreter: entgleitet einem die Geschichte, entzieht sich einem genauen Verhör, das die Sprache in immer wieder neuen Zugriffen herzustellen versucht.
Dabei bleiben die Beschreibungen der Frauen immer konkret und folgen den Situationen, während Nebenhandlungen und -schauplätze oftmals ausgespart und gerafft werden, um, wie einer Fährte folgend, rasch wieder bei den Hauptfiguren anzukommen.
Aber was genau ist diese Fährte, auf die die Autorin mich beim Lesen führt? Die Gewalt an Frauen. Das Leiden in Beziehungen. Das Zurückgeworfensein auf eine Form, eine Haltung, die man zu erfüllen hat. Die Schwangerschaften. Die ungewollten Schwangerschaften. Das Alleinsein im Schmerz. Das Schweigen wegen der Scham. Das Schweigen wegen der fehlenden Worte. Das Schweigen wegen des Misstrauens voreinander. Schweigen. Misstrauen. Angst.
Beim Lesen zwängt sich mir wieder ein Gefühl auf, ein sehr simples. Wieder und wieder umkreise ich es beim Lesen, versuche es zwischen dem ruhigen Erzählen und den gleichzeitig einfallenden morbiden Bildern zu greifen, die Anna Neata einem ganz gelassen immer wieder unterschiebt: Die Angst. Angst dieser Frauen, ihre Geschichten zuzugeben. Angst dieser Frauen, ihre Geschichten zu erzählen. Angst, die sich zusammenschnürt und immer größer wird. Bis es die Angst ist, gesehen zu werden. Und dann, beziehungsweise damit, geht es dann irgendwann über in ein Verhandeln von Schuld – aber dafür müsste man eigentlich darüber sprechen und Gemeinsamkeiten erkennen. Paradoxerweise zeichnet der Roman auf eine sehr un-wertende und respektvolle Weise diese Schuldsuche nach und verurteilt dabei niemals die einzelnen Charaktere in ihren Fehlern und Handlungsmustern (beziehungsweise: Handlungsunfähigkeitsmustern).
Manchmal kommt es einem beim Lesen vor dem inneren Auge fast so vor, als hätte man alle drei Frauen um sicher herum am Küchentisch sitzen; und als wäre es nun, nach der Lektüre des Romans, vielleicht sogar möglich, gemeinsam über all die Wunden zu sprechen und anzuerkennen – in einer Erleichterung, vielleicht? –, dass diese drei Frauen viele ähnliche Wunden haben und in schablonenhafter Überschneidung die Traumata und Muster der Mütter in ihrem eigenen Leben nachfahren.
„Sie erkennt sie [seine Fußstapfen] genau an den Striemen zwischen den einzelnen Tritten, seinem schleifenden Gang, den er erst hat, seit er wieder da ist, als gäbe es etwas Schweres, dass ihn nach unten zieht.“ (Seite 92)
Diesen Gang beschreibt Elli bei ihrem Mann Alex. Die Frauen in Anna Neatas Roman scheinen alle eine sehr gute Beobachtungsgabe zu haben. Sie beobachten einander, das Leben, die Männer um sich herum und versuchen, sich zu emanzipieren, sich freizuschaufeln und frei zu sein – immer mit einer Haltung – so als wäre in das gesamte Buch ein Korsett eingenäht. Doch man wundert sich: Müssten nicht die Frauen den schleifenden Gang haben? Sind sie nicht die Leidtragenden? Wie schaffen sie es durchs Leben? Vielleicht ist es aber genau das, was uns der Roman erzählen will, dass diese Frauen sich gar nicht hängen lassen, sich nicht gehen lassen, weil sie es nicht können – oder auch weil es nicht der Ausweg aus dem Schlamassel wäre, oder?
Als ich das Buch das erste Mal in der Hand hatte und den Titel Packerl las, kam mir zuerst das Tschick-Packerl in den Kopf oder das Packerl, das man mit Geschenken in der Adventszeit verschickt, oder das Packerl, das auf dem Schrank steht und worin man im Sommer einige Winterpullover und im Winter die Sommertücher hat, oder eben das Packerl, in das all die Notizzettel und Hefte, Briefe, Postkarten und Krimskrams reingeschmissen wurden; Dinge, die man zwar aufheben sollte, aber nicht haben will oder darüber noch nicht entschieden hat oder sie für später vielleicht mal braucht. Das unaufgeräumte gelebte Leben. Irgendwie, im Lesen dieses Romans, erscheint mir meine innere Gedankenkette zu dem Packerl sehr treffend und irgendwie von Wichtigkeit. Und gerade das letzte meiner gedachten Packerl ist doch irgendwie auch das, was Anna Neata in so detaillierten und genauen Szenen durch acht Jahrzehnte hinweg beschreibt: Was einem so passiert und was man schnell, schnell in ein Packerl oder eine Kiste stopft, in der Hoffnung, es möge dort versauern, ohne dass jemand es findet. Unbemerkt: So hastig verstaut, bleibt es immer das Packerl, das man durch das Leben zu tragen hat. Je mehr verschwiegen und weggestopft, umso schwerer und zerrender am Leib.
„[…] unsere kleine Träumerin träumt mal wieder von einem besseren Leben.“ (Seite 57)
Und ja, an Textstellen wie dieser will ich rufen – los, träum! Trau dich und sprich über deine Träume und dann setz sie um. Vielleicht lässt einen der Roman damit zurück – mit einer feinen Beobachtung darüber, die beiläufig und unbemerkt sich Dinge verschweigen lassen, wie beiläufig und unbemerkt Gewalt passieren und entstehen kann. Und wie weit die Auswirkungen gehen. Und er erzählt von dem großen Gefühl des Mutes, sich dem Leben (trotzdem) zu stellen. Ob die drei Frauen wirklich träumen, das bezweifle ich, aber sie stellen sich – jede auf ihre Weise – und stehen für sich ein. Dabei verspricht doch der Buchrücken: „Diese Frauen warten nicht auf Erlösung. Sie nehmen sie sich einfach.“ Dem Gedanken lässt sich vielleicht ergänzend hinzufügen – und das ist vielleicht der Unterschied: Der Platz zum Träumen ist nicht da, aber das, und das ist das Stärkste an diesen drei Frauen in so unterschiedlichen Zeichen, sehen sie mit wachem Auge und wählen einen aktiven Weg, damit umzugehen. Und mit Eva, in eine andere, vermeintlich offenere Zeit hineingeboren, begleitet man die dritte junge Frau, die offenbar rebellischer mit dem Leben umgeht. Mit ihr gemeinsam kann man lesend begreifen, wie schwierig es ist, sich dem Leben zu stellen.
„Pst! Wie immer hatte sie sich gedacht, solange ich es nicht ausspreche, wird es nicht wahr. Und dann war die Wut gekommen.“ (Seite 74)
Maren Sophia Streich, geboren 1993 in Berlin, lebt in Wien. Studium der Komparatistik an der HU Berlin, Gesellschaftskommunikation an der UdK Berlin, Schauspiel am Max Reinhardt Seminar und Absolvierung einiger Schreibklassen. Ihr Schreiben entwickelt sie über die Praxis im Schauspiel und begreift die Tätigkeit der verschiedenen Bereiche als Mosaik, in dem man erst denken kann. Sie schreibt Drama, Prosa und manchmal Essay. Erschienen sind ihre Texte u. a. im Process*in Magazine, Komplex Kulturmagazin und mosaik freitext. Uraufführungen im LOT/Brotfabrik Wien, Alsergrunder Kultursommer, Wiener Kultursommer und Theaterforum Schwechat, sie erhielt Stipendien der Stadt Wien und vom BMKÖS, hat das LOT in der Brotfabrik mitgegründet und aufgebaut und war bis Ende 01/2023 Teil des Leitungsteams. Außerdem schreibt sie Artikel, u. a. für die gift und bohema und arbeitet im kulturpolitischen Bereich.