Letztgenanntes Beispiel beweist einerseits erneut die Überlegenheit des Wortes gegenüber dem Schwert, andererseits zeigt es aber auch, und das ist an dieser Stelle weitaus interessanter, dass Paragramme trotz ihrer großen Macht noch immer eine Art Schattendasein führen: Zwar kommt fast jeder Mensch immer wieder mal auf verschiedenen Wegen (meist zufällig) mit ihnen in Kontakt, aber man hat leider meist nicht die leiseste Ahnung davon, dass man es eben gerade mit Paragrammen zu tun hat. Gut also, dass Günter Vallaster einige Autoren zusammentrommeln konnte, um gemeinsam mit ihnen diesem Missstand entgegenzutreten und „das Paragramm am Beispiel einer Textsorte, in der es eine ganz fundamentale Bedeutung hat, nämlich der sprachreflexiven, experimentellen Literatur, in einem Sammelband auszuloten“.
Die Anthologie beginnt folgerichtig, gemäß dem schon angesprochenen Unbekanntheitsgrad des Paragramms, mit einer Einführung von Vallaster, in der u.a. Definition, Herkunft, Etymologie und was man sonst noch in Bezug auf Paragramme wissen sollte, geklärt werden. Das Paragramm, so Vallaster, könnte „als Austausch eines oder mehrerer Buchstaben an einem Wort gesehen werden, wobei noch ein zumindest loser lautlicher und/oder graphischer Zusammenhang zum Ausgangswort bestehen bleibt bzw. auch der Kontext einen Konnex zum Ausgangsort legen kann, wodurch sich spannungsvolle doppelte und mehrfache semantische Böden eröffnen“. Anhand dieses Definitionsversuchs lässt sich, neben dem Potential von Paragrammen, vielleicht zumindest im Ansatz schon erahnen, warum das Paragramm gemeinhin noch als relativ unbekannt gilt, obwohl es im Grunde – vor allem in einer Zeit, in der man den größten Teil derselben mit dem meist hastigen Tippen und insbesondere Vertippen von Buchstaben und Wörtern an einem PC verbringt – allgegenwärtig ist: Der übergroße Schatten, der das Paragramm an seinem Aufblühen hindert, der unerbittliche, ihm schwer auf der Brust sitzende Alp, ist das Anagramm, das mittlerweile seine feste Stellung im allgemeinen Sprachgebrauch hat und oft mit ihm verwechselt wird.
Vallaster zufolge könnte man das Paragramm durchaus, noch vor dem Anagramm, als beliebtestes Wortspiel bezeichnen, das Problem sei eben nur, dass es selten erkannt wird – dies ändert allerdings nichts daran, dass die Welt voll von Paragrammen ist und diese in vielen verschiedenen Bereichen anzutreffen sind. In (vorwiegend experimenteller) Literatur wie in Finnegans Wake von James Joyce oder einigen Werken von Ernst Jandl ebenso wie im so genannten alltäglichen Leben, in der Politik genauso wie in der Werbung. In seinem Beitrag über Adbusting und Culture Jamming legt Peter Marwitz etwa dar, dass Paragramme sowohl bei (der Entwicklung von) Reklamen selbst als auch bei der Dekonstruktion derselben zum Einsatz kommen können und somit enormes subversives Potential in sich bergen, was auch Gerhard Rühm in der Praxis anhand einer paragrammatischen Pervertierung des Ave Maria beweist.
Von der vielfältigen Einsetzbarkeit des Paragramms zeugen aber auch die restlichen Texte der Anthologie, die beinahe eine ebenso große Vielfalt aufweisen: Von zum Teil vermeintlich, zum Teil tatsächlich simplen Kalauern über paragrammatische Dichtungen um Umdichtungen bis hin zu längeren Aufzählungen ist alles in der Anthologie vertreten. Einen Höhepunkt stellt dabei Helga Christina Pregesbauers äußerst originelle „Para-Listik“ dar, eine Art Pseudo-Lexikon, bei dem man mitunter schon zweimal nachlesen muss, um die Pointe (und manchmal sogar nur die umgestellte Letter) zu entdecken, und wo sich unter anderem Einträge finden lassen wie folgender: „Eueropa: Großvater, der beim Spielen am Strand von einem Rindvieh namens Zeus entführt wurde, später vergewaltigt und aus unerfindlichen Gründen zu Greta gebracht. Aufenthaltsort seither ungeklärt.“ Eine ähnlich gute Idee hatte Irene Wondratsch, deren Beitrag eine paragrammatische (oder paragrammisierte?) Version der von Vallaster für diesen Sammelband verfassten Projektbeschreibung darstellt. „[D]em Paragramm sind keine Grenzen gesetzt, weder frei assoziativ noch streng algorithmisch“, schreibt Vallaster in seiner Einleitung, und dies völlig zu Recht, wenn man sich die Beiträge des Sammelbandes so ansieht.
Paragramme ist also in mehrerlei Hinsicht ein geradezu tadelloser Sammelband: Zu Beginn wird – gerade von Vallaster selbst – eine umfassende theoretische Grundlage geliefert, anschließend wird diese gewissermaßen praktisch erprobt. Die Texte sind, wenngleich sie einen – wie bei jeder guten Anthologie – hin und wieder auch ratlos zurücklassen, äußerst vielfältig und decken, auch hinsichtlich ihrer Qualität, ein großes Spektrum ab. Aber alle Beiträge zeigen immer wieder auf erstaunliche Weise, wie stark sich nicht nur diverse Wörter, sondern auch ganze Sätze und Texte durch einige marginale Buchstabenumstellungen verändern und mitunter sogar in ihr Gegenteil verkehren lassen und vor allem auch wie reizvoll dieser Umstand beim Schreiben (und Lesen) von Texten sein kann. Das Thema selbst wird freilich nicht jedermann ansprechen, sondern vorwiegend jene, die seit jeher ein Faible für Wortspiele- und Spielereien haben und sich generell gerne mit Sprachexperimenten beschäftigen. Auch Freude am Rätseln wäre nicht unbedingt von Nachteil, denn ein weiterer, nicht unwesentlicher Aspekt des Paragramms ist, und auch dies macht die Anthologie klar, dass es um einiges mehr Spaß macht, das Paragramm ohne fremde Hilfe als solches zu erkennen und gewissermaßen zu lösen – weshalb auch in dieser Rezension darauf verzichtet werden soll, die anfangs erwähnten Paragramme zu entschlüsseln, wer will, findet sie alle im Sammelband.