Dieses Oberflächensystem kann man sich relativ leicht erschließen, es bildet die frei und bewußt gewählte Form als ein fertiger Topf, in den die Inhalte – die Verse – einschießen müssen. Wie Ledebur diesen Topf füllt, wie ihm die Verse zusammenschießen, erhellt das unentschiedene Verhältnis von dichtendem Handeln und dichtendem Erleiden. Ist der Dichter der Urheber, der Beherrscher seines poetischen Systems, oder ist er der Erleidende, Unterliegende unter ein System von gesetzten oder uneingestandenen Systemzwängen? Dies die Frage, die in Ledeburs „Poetischem Opfer“ auf dem Spiel steht (und nicht – wie es manche Poetiken der Moderne nahelegen – als eine Frage, deren Beantwortung in die zweite Richtung schon vorweggenommen ist).
Das strophische Oberflächensystem ist aber nicht das einzige Kalkül der Gedichte. Auf der Ebene kleinerer sprachlicher Einheiten zieht Ledebur die Register moderner Textgeneration (Anagramm, Minimalpaarvertauschung, Assonanz (phonetische Anschlüsse), Antonyme, Homonyme etc.).
Kleinste sprachliche Einheiten und strophische Oberflächenstruktur haben etwas gemeinsam: So unüberschaubar und schwierig sie auch wirken mögen, sind sie doch prinzipiell nachvollziehbar, angebbar und systematisierbar. Diesem aktiv systematisierten und systematisierbaren Textprinzip konkurriert die Ebene der sprachlichen Bedeutung, die sich in den und durch die Gedichte einstellt. Auf dieser Ebene weiterreichender Bild- und Motivkomplexe verschränkt der Autor z. B. in den Rondellen das Motiv der Schlacht und des Morgenlandes mit dem Komplex der Schrift und des sprachlichen Zeichens; oder in den Sonetten z. B. das Motiv des Ich und Du mit der schöpfenden und der kultivierten Natur. Der Ausdruck Komplex deutet es schon an: Auf dieser Ebene des poetischen Systems herrscht geringere Rigidität, ist mehr Raum für Assoziation und Spekulation.
So differenzieren sich im poetischen System des Poetischen Opfers zwei Teilsysteme von unterschiedlicher Rigidität und Beschreibbarkeit aus, die einander beeinflussen und bedingen: das formal beschreibbare Konstrukt (der Strophen, der Textgenerierung) und die unfaßbareren, bildlichen Sprachelemente werden als Aufeinanderprall von systematischem und assoziativem Fortgang vorgeführt.
Überrraschend und entgegen einer geläufigen Vorausannahme stellt sich im Textverlauf folgender Effekt ein: Das scheinbar Starre, Dogmatische (des Kalküls, des formalen Korsetts) erweist sich als durchschaubar und unterwerfbar, mithin dem Autor geläufig; er wird durch es geradezu „frei“. Das Dunkle, Unüberschaubare der Bilder, Übertragungen und Idiome hingegen, das geläufig als das „Freie“ bezeichnet wird, scheint uneingestandenen Systemzwängen zu folgen, mithin geradezu als Einengung einer wie auch immer verstandenen poetischen Freiheit.