1895 erschienen die von Freud und Breuer herausgegebenen Studien über Hysterie, die als die Geburtstunde der Psychoanalyse gelten. Vier Beiträge dieses Bandes werden in Anlehnung daran unter dem Titel „Hysterie und Geschlechterdifferenz“ zusammengefaßt. Michael Worbs belegt für Hofmannsthals Theaterstück Elektra (das dem Libretto zugrundeliegt und 1903 in Berlin von Max Reinhardt mit großem Erfolg uraufgeführt wurde) die Zusammenhänge mit den Studien über Hysterie, die Hofmannsthal 1902 gelesen hat, insbesondere mit dem darin geschilderten Fall der Anna O., und sieht in diesem Stück den ersten bewußten Rückgriff der Literatur auf die Psychoanalyse. Freud selbst hat sich in der legendären Mittwoch-Gesellschaft deutlich ablehnend zur Elektra geäußert: „Die Kunst des Dichters besteht […] wesentlich in der Verhüllung. Das Unbewußte darf aber nicht ohne weiteres bewußt gemacht werden […].“ (Zit.n. S. 6)
Unter dem Titel „Die Hysterie des Anderen“ reflektiert Ortrud Gutjahr die Beziehung Lou Andreas-Salomés zu Rainer Maria Rilke, dem sie, noch lange bevor sie selbst zur Psychoanalytikerin ausgebildet und zu einer Vertrauten Freuds geworden war, deutend und analysierend zur Seite stand. Rilke, der Freuds Schriften „unsympathisch und stellenweise haarsträubend“ (zit. n. S. 31) fand, erwog für sich selbst nur kurz eine Analyse und wurde in dieser ablehnenden Haltung von Andreas-Salomé durchaus bestärkt – sie befürchtete ein Vordringen der Analyse in jene Bereiche, in dem ein Künstler das latente Material für seine Werke beziehe.
Christine Kanz widmet sich in ihrem Beitrag den Schriftstellerinnen um Freud und Otto Gross, Lou Andreas-Salomé, Margaret Susman und Regina Ullman, und deren Ringen um Positionen zur Geschlechterdifferenz. Elisabeth Bronfen analysiert G. W. Pabsts psychoanalytischen Film Geheimnisse einer Seele. Bereits 1924 war Samual Goldwyn an einer Verfilmung der Freudschen Theorien interessiert, hatte aber von Freud eine Absage erhalten. Ein Jahr später drehte die Ufa unter beratender Mitwirkung zweier Berliner Mitarbeiter Freuds, Karl Abraham und Hanns Sachs, die filmische Behandlung der Theorien. Freud erbat sich in einem Brief an die Redaktion der Neuen Freien Presse, der am 25.8.1925 abgedruckt wurde, die Richtigstellung, daß er nie zur Herstellung eines psychoanalytischen Films seine Zustimmung gegeben habe – und dies auch weiterhin nicht tun werde. Er hoffe, die Berater seien eine Bürgschaft dafür, daß diese „Produktionen nichts Sinnwidriges und nichts Anstößiges enthalten werden“. Bronfens Beitrag handelt ausschließlich vom Endergebnis, von der Uneindeutigkeit oder Mehrdeutigkeit einzelner Filmsequenzen. Bereits die zeitgenössische Kritik bemängelte an Pabsts Film, der Zuschauer würde gänzlich im Unklaren gelassen, wie denn eigentlich das Leiden behoben werde.
Der zweite Abschnitt des Bandes unter dem Titel „Wertkonflikte“ behandelt Otto Gross (Giusi Zanasi), jenen zunächst vielversprechenden Schüler Freuds, der der Psychoanalyse bei C. G. Jung durch Flucht aus der Anstalt entkam, der die Erkenntnisse der Psychoanalyse, deren revolutionäres Potential ihn zum Anarchisten werden ließ, mit Zivilisationskritik verband. Mit seiner Kritik an der patriarchalen Struktur der Gesellschaft erhielt er Vorbildcharakter für den auf Vater-Sohn-Konflikte spezialisierten Expressionismus.
Thomas Anz widmet sich in seinem Beitrag „Seele als Kriegsschauplatz“ der Rezeption von Freuds Essays Zeitgemäßes über Krieg und Tod bei Thomas Mann, den Ähnlichkeiten und Unterschieden von Freuds Theorie bei Kafka. Mit Wilhelm Jensens Gradiva (der auch in Briefwechseln mit Freud beteuerte, Freuds Essays vor Abfassung der Novelle nicht gekannt zu haben) und der Psychoanalyserezeption im Werk von Alfred Döblin und Robert Musil wird der Bogen geschlossen. Anz weist darauf hin, daß „Kampf“ um 1900 zum Kennzeichen der gesellschaftlichen wie der ästhetischen Moderne wurde und: „Psychoanalyse und literarische Moderne reagierten gleichzeitig und in wechselseitiger Abhängigkeit auf gravierende Identitätsprobleme des modernen Subjekts …“ (S. 98f.) Von dieser Position aus ist auch der Untertitel des Bandes: Kooperation und Konkurrenz zu verstehen.
Fallbeispiele bringen Astrid Lange-Kirchheim, die Schnitzlers Novelle Fräulein Else im Kontext zu Freuds Schriften zur Hysterie als die Geschichte eines Mißbrauchs liest, Claudia Liebrand („Deconstructing Freud“) beleuchtet Kafkas Proceß als ironische Umschrift von Freuds Konzepten (die Kafka vermutlich großteils nur „vermittelt“ über andere Autoren kannte), Michael Rohrwasser widmet sich „Canettis Beschreibungen von Freud“. V. a. Canettis Theorien zum Phänomen der Masse stehen in direkter Konkurrenz zu Freuds Konzepten, sind nicht zuletzt ein Gegenentwurf zu Theorien des Unbewußten oder des Todestriebs. Canettis Kritik an der Psychoanalyse geht von der Kritik an der Person Freud aus: Canetti zeichnet das Bild eines weltentrückten Wissenschaftlers, der über das Phänomen der Masse nichts wissen will, der – und damit die gesamte Psychoanalyse – gegenüber den Patienten das Ohr verschlossen habe, da „das Resultat … wie durch einen unerschütterlichen Schicksalsspruch bereits bekannt und vorweggenommen“ (zit. n. S. 146) sei.
Im Kapitel „Erzählprozesse“ führt Sabine Kyora über den deutschsprachigen Raum hinaus und widmet sich der Bedeutung der Psychoanalyse im französischen Surrealismus und bei Autoren wie James Joyce, Djuna Barnes und Virginia Woolf. Die beiden letzten Beiträge haben die literaturwissenschaftlich „angewandte“ Psychologie/Psychoanalyse zum Thema: Michael Titzmann demonstriert die Rekonstruktion textinterner Psychologie anhand der literarischen Moderne, Walter Schönau nimmt Jensens 1903 erschienene Novelle „Gradiva“ und die Auseinandersetzung Freuds damit als Fallbeispiel für Fragen nach dem kreativen Prozeß und warnt – demonstriert an der Person Arthur Schnitzler – vor der Überschätzung der Bedeutung psychoanalytischen Wissens für den literarischen Schaffensprozeß.