#Prosa

Rabenangst

Andreas Renoldner

// Rezension von Elisabeth Hemelmayr

„Papierflieger schießen. Hüpfen wie ein Kind. So benimmt sich ein soeben pensionierter, gebildeter Herr einfach nicht!“ (S. 24) So benimmt sich aber unser Held, Karbacher, der auf einem Ausflug zur Feier seiner Pensionierung angetrunken einen ebenso betrunkenen Mopedfahrer mit dem Auto erfasst und umgestoßen hat, anscheinend ohne größere Schäden.

Karbacher jedoch hat nach eben diesem Unfall seine Stimme verloren, bringt nicht mehr als ein Räuspern zustande. Er beginnt, sich mithilfe von schriftlichen Notizen zu verständigen, trägt Zettel und Stift immer bei sich. Und bastelt hie und da Papierflieger, woran seine – man darf annehmen fürsorgliche und liebevolle – Ehefrau Anstoß nimmt und fortan auf Arztbesuche drängt, um dem Verlust der Stimme auf die Spur zu kommen. Dieser Aufforderung leistet Karbacher mit wenig Enthusiasmus Folge, wie erwartet sind die Ergebnisse der Untersuchungen unbestimmt, auch die des Neurologen.

Die Verrücktheit, die ihm seine Frau ängstlich unterstellt, attestiert ihm niemand. Zwischen diesen Arztbesuchen und der Besorgtheit seiner Frau füllt sich die Freizeit des Neo-Pensionisten zunehmend mit einem Katz- und Maus-Spiel der paranoiden Sorte. Es beginnt mit einer Nachricht, die Karbacher eines Tages auf die Wand einer Toilette in einem Einkaufszentrum schreibt – und am nächsten Tag eine Antwort darauf erhält. Immer mehr Nachrichten hinterlässt der Verstummte, auf besagter Toilette, auf Litfass-Säulen, in der Straßenbahn, immer mehr und rätselhaftere Antworten erhält er. Schließlich nimmt das Spiel beunruhigende Formen an, als scheinbar Unmögliches geschieht.

Raben und Krähen, eine Wärmekabine, die Putzfrau mit den dunkelschönen Augen, das Neuland in Wipfelbetten schaffen eine poetische Welt, in der Karbacher nicht mehr weiß, wer sie bewohnt, und sich zunehmend verfolgt fühlt. Allen voran die Raben und Krähen wollen ihm Böses. Das Einkaufszentrum wird zum Ort des Schreckens und des Wahns, tote Vögel tauchen auf und Putzfrauen verfolgen ihn.

Der Verfolgungswahn macht auch nicht halt vor dem eigenen Haus. Karbacher schließt sich ein, zieht die Vorhänge vor, versteckt sich in seiner Wärmekabine, die jedoch – als Sonderangebot gekauft – seine Erwartungen als Wohlfühlkabine nicht erfüllt. Schutz vor den Raben gewährt sie ihm auch nur bedingt, können diese doch einfach betäubendes Gas einströmen lassen – oder geht diese Gefahr von der Nachbarin aus, die mit seiner Frau unter einer Decke steckt? Die große Angst: sie wollen ihm die Augen aushacken. Nach dem Verlust seiner Stimme also befürchtet Karbacher einen weiteren Sinnesverlust. Aus Angst vor dem Verlust der Sinne – wohl auch des Lebenssinnes durch seine Pensionierung – verliert der den Verstand.

Am Ende schließt sich der Kreis, die Stimme kehrt zurück – von Unfall zu Unfall. Der Stimmverlust quasi als Schockzustand, als vorübergehender Pensionsschock, der durch das selbe Ereignis, dass ihn ausgelöst hat, wieder aufgehoben werden kann.

Spannend ist die kleine Geschichte, die Andreas Renoldner hier erzählt. Vorhersehbar sind zwar einige Dinge – wer die Nachrichten schreibt ebenso wie die Auflösung am Ende – das tut der Spannung allerdings keinen Abbruch, denn welchen Sinn die Nachrichten ergeben, ist unergründlich, ebenso wenig die Rolle der Raben.

Sehr schön ist die Passage, in der Renoldner darstellt, wie Menschen Schweigen nicht ertragen können. Darin schildert er den Besuch eines alten Freundes, der nicht aufhört zu reden, um Karbachers Schweigen zu verhindern.

Etwas mühsam ist das ständige Wörtlich Nehmen gängiger Ausdrücke, zum Beispiel das „frisch gebackene Schinkenkipferl aus biologischem Anbau. Leider hat Karbacher nicht herausfinden können, wie man Schinkenkipferl biologisch anbaut.“ (S. 30) Oder wenn die Tochter auf einen Sprung vorbeikommt. „Karbacher wartet bis zu ihrem Weggehen darauf, dass sie springt. Leider springt sie nicht, obwohl sie es angekündigt hat.“ (S. 23) Allerdings wird an genau an diesen Formulierungen deutlich, wie sehr sich die Wahrnehmung eines Menschen verändert, der die Welt plötzlich anders erlebt.

Und zuletzt ist Renoldners Sprache sehr bildhaft und passt sich dadurch an Karbachers Stimmverlust und die damit einhergehende Zettelkommunikation an. Die Welt verändert sich, und dadurch bekommen die Dinge eine neue Qualität. Wie Karbachers Frau einmal feststellt: „Manchmal kommt es mir vor, als könnten wir neue Dinge erleben, seitdem dir die Stimme versagt.“ (S. 49)

Eine eindringlich erzählte, beängstigende und doch wieder versöhnliche Geschichte eines Mannes, der tapfer und unkonventionell versucht, sein Leben mit allen Sinnen zu genießen.

Andreas Renoldner Rabenangst.
Erzählung.
Wien: Edition Atelier, 2006.
175 Seiten, gebunden.
ISBN 3-902498-08-0.

Homepage des Autors

Rezension vom 13.09.2006

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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