Zeitlich reicht der erste Band von der Geburt 1875 bis zur Trennung von Rodin (oder besser gesagt: Rilkes Rausschmiß) 1906, als der Schriftsteller bereits sein Stunden-Buch hinter sich hatte, erste „Neue Gedichte“ schrieb und schon am „Malte Laurids Brigge“ arbeitete (der allerdings erst Jahre später zu einem Abschluß kam). Anschaulich beschreibt Freedman die bedrückende Kindheit und Jugend des allzu zartbesaiteten Rilke (der bekanntlich unter anderem unter den harten Bedingungen der Militärunterrealschule St. Pölten litt), zeichnet die ersten Entwicklungsstufen seiner Person wie seiner Dichtung nach (von ersten epigonischen Gehversuchen bis hin zur Abkehr von der ichbezogenen Lyrik und einer Zuwendung zu „religiöser Einsicht“ (S.9). Am fesselndsten an den ersten drei Jahrzehnten von Rilkes Leben ist wohl (immer wieder) die Beziehung zur Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé, deren Einfluß auf den jungen Mann gar nicht hoch genug geschätzt werden kann. Rilke war von der charismatischen, musischen und emanzipierten Frau von der ersten Sekunde an fasziniert, sie gab sich ebenfalls stürmischen Gefühlen hin, drängte Rilke allerdings von da an auch dazu, sich seinem Schreiben mit absolutem Arbeitswillen und Disziplin hinzugeben. Unzählige Episoden zeugen davon, wie sehr er dem Willen und Urteil seiner „Meisterin“ unterworfen war. Einmal überarbeitet er Novellen, deren Manuskript er schon seinem Verleger geschickt hat, dann wiederum läßt er sich für seine Bildungsreise nach Italien ein Aufgabenheft von Lou erstellen – und verfällt in tiefste Depressionen und Minderwertigkeitsgefühle, als Lou nach seiner Rückkehr sich über das Niveau seiner Reisetagebuchaufzeichnung enttäuscht zeigt.
Wie sehr der „verliebte Jünger“ (so nennt Freedman ein Kapitel) mit dieser Beziehung kämpfte, wird in dem Buch hautnah nachvollziehbar: Rilke litt stark unter den vielen Männern, die Lou umschwärmten und zum Teil ihre Aufmerksamkeit und Zeit in Anspruch nahmen, kam sich in Gegenwart ihres älteren Mannes, des Gelehrten Friedrich Andreas, stets vor wie ein Kind, das mehr behütet denn als ebenbürtig angesehen wird. Starke Stimmungsschwankungen Rilkes belasteten wiederum Lou, was die Sache auch nicht einfach machte. Mit dem Gefühl der Abhängigkeit konnte Rilke jedenfalls sehr schlecht umgehen: „Kaum hatte er die geradezu zwanghaft begehrte Partnerschaft Lous gewonnen, da vermißte er schon wieder die innere und äußere Unabhängigkeit, um derentwillen er gegen seine Familie angekämpft hatte.“ (S.110)
Berühmt sind jedenfalls Lous und Rilkes Rußlandreisen, die der Biograf ebenfalls erzählerisch beschwingt ausbreitet. Hier erfährt man ebenso Wissenswertes über die Wandlung von Rilkes Kunst-Sichtweise (Stichwort: weg von der ichbezogenen Lyrik) wie über die Privatsphäre. Wer Rilke nicht abgöttisch liebt, kann der Biografie an solchen Stellen durchaus ein Schmunzeln abringen. Etwa dann, wenn Rilke sämtliche realen Verhältnisse des Riesenreiches partout nicht sehen will, wohingegen er in den Gesichtern der kleinen Leute und edlen Bauern stets Gottesfrömmigkeit, Demut und Unverdorbenheit findet. Es wundert dann auch nicht weiters, daß sich der Schriftsteller nach seiner Rückkehr zu Hause eine kleine Rußlandecke einrichtet (so eine Art Herrgottswinkel), um sich inspirieren zu lassen.
Kurzum: Rilkes Leben wurde nicht nur von tief Erlebtem, Gefühltem und Gedachtem bestimmt, sondern auch von so mancher Pose, die heute merkwürdig erscheint. Das tut allerdings der Biografie keinen Abbruch, da diese es schafft, eine erzählerisch dichte Atmosphäre zu schaffen, die die Person ebenso plastisch darstellt wie sie einen Schlüssel zu Rilkes Dichtung bietet.