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Ratten

Karin S. Wozonig

// Rezension von Johanna Lenhart

Speedy, die Katze und eine Ratte namens Shakespeare stehen am Anfang von Ratten: Die österreichische Literaturwissenschaftlerin und Kritikerin Karin S. Wozonig beginnt ihr Porträt dieser Spezies konsequenterweise bei Haustieren und persönlichen Erfahrungen

Ratten, um die sich dieses Büchlein dreht, sind entgegen ihrem Ruf als Ungeziefer ausgezeichnete Haustiere, und dieser Ausgangspunkt ist gerade deshalb richtig, da jede Untersuchung der Natur und ihrer Bewohner:innen zwangsläufig aus der Perspektive des Menschen gemacht wird. Wir richten unser Auge auf „das Tier“ und finden uns – manchmal ohne es zu merken – bei uns selber wieder. Und so fügt sich Ratten wunderbar in die aufwendig gestalteten Naturkunden des Berliner Verlags Matthes & Seitz ein. Die inzwischen mehr als 100 Bände umfassende Reihe, herausgegeben von Autorin Judith Schalansky, versammelt so charmante wie aufschlussreiche Einblicke in Tier-, Pflanzen- und Umwelt. „Hier wird keine bloße Wissenschaft betrieben, sondern die leidenschaftliche Erforschung der Welt: kundig, anschaulich und im Bewusstsein, dass sie dabei vor allem vom Menschen erzählt – und von einem Blick auf eine Natur, die uns selbst mit einschließt“, erklärt das Statement auf der Verlagswebsite. Hier berichten etwa Andrea Grill von Seepferdchen und Schmetterlingen, es wird Vergessenes und Vergriffenes neu aufgelegt (zum Beispiel Peter Matthiessens Der Schneeleopard oder Hanns Cibulkas Sanddornzeit. Tagebuchblätter von Hiddensee), anderes wiederum durch Übersetzung zugänglich gemacht, wie Wie ich ein Baum wurde der indischen Autorin Sumana Roy.

In Band 102 nimmt sich Wozonig nun der Ratte an, einer Spezies, der sie seit den Tagen Shakespeares zugetan ist. Ratten, so erklärt sie, seien überall und besonders da, wo es Menschen gibt: „Für Ratten unwirtlich wäre eine menschliche Siedlung ohne biologische Spuren menschlicher Existenz.“ (S. 23) Die Ratte ist ein sogenannter Kulturfolger und damit eng mit der Geschichte des Menschen verknüpft. Umso paradoxer, dass die Ratte dem Menschen nicht nur als Abfallverwerter in Städten zu Diensten steht, sondern auch als Versuchstier in medizinischer und behavioristischer Forschung eingesetzt wird. Gerade jenes Tier, das so viel Abneigung und Ekel hervorruft, dient also auch dem „Verständnis unserer eigenen Natur“ (S. 58).
Denn als Folge der engen Verbindung mit dem Menschen ist die Ratte fest in den Kanälen und Mülldeponien dieser Welt zu Hause, sowohl in den realen als auch den metaphorischen: „Als Mitbewohnerin in unseren Siedlungen ist die Ratte immer dort, wo wir lieber nicht hinsehen würden: Bei unserem Kot, Müll, Unrat, auf der Rück- und Unterseite unserer Zivilisation. Ratten sind immer mehr als sie selbst und oft sind sie die dunkle Seite des Menschen.“ (S. 10)

Dementsprechend bevölkern sie seit jeher die menschliche Imagination, deren verschiedenen Ausgestaltungen sich Wozonig merklich genussvoll widmet: Ratten wimmeln und wuseln in Urban Legends, sie erscheinen als Begleiter von Göttern und Hexen in Mythen sowie in religiösen und literarischen Texten, und nicht selten steckt hinter der Erzählung von der Ratte die „ganze, große Geschichte über das Böse, das Grausame, den Überlebenstrieb, der sich der eigenen Stärke bedient und die Schwächen der andere ausnutzt.“ (S. 81) Ratten, symbolische und literarische, sind oft Vorboten des Untergangs. Zerstörer:innen, die nicht nur im konkreten Untergrund wühlen, sondern „sie nagen zugleich auch an der Hierarchie und dem Wertefundament einer Gesellschaft“ (S. 86). Im positiven Sinne, denn mit diesem Untergraben von Bestehendem kommt auch „eine konstruktive Ordnungsstörung“ (S. 87), die aufbricht und Neues möglich macht.

Gerade auf literarische Ratten kommt die Literaturwissenschaftlerin häufig zu sprechen und überraschenderweise ist nicht nur die Ratte in den Köpfen der Menschen ein ständiger Gast, sondern umgekehrt versuchen auch Autor:innen, sich immer wieder in den Köpfen der Ratten einzunisten und sich der Welt aus deren Perspektive zu nähern, wie etwa Sam Savage in seinem Roman Firmin. Adventures of a Metropolitan Lowlife (2006), Ursula K. LeGuin in Mazes (1975) oder auch in Die Geschichte des Menschen. Von einer Ratte erzählt (2021) von Kerstin Decker. Imaginationen, die sich der Frage widmen, wie es wäre, wenn die Welt nicht vom Menschen aus betrachtet werden würde – ein Paradox natürlich, das vielen Naturbeobachtungen eingeschrieben ist.

Eine Ratte kann also vieles sein und gerade darin liegt ihr Reiz für die menschliche Imagination. Dennoch versäumt es der Band nicht, die rättischen Phantasien auf ihren biologischen Ursprung zurückzuführen und schließt mit einem kleinen Lexikon der verschiedenen Rattenarten ab, das diese jenseits aller menschlicher Vereinnahmung als äußerst anpassungsfähige, intelligente, mit dem Menschen lebende und am Menschen leidende Tiere beschreibt. Wie stets in den Naturkunden schön gestaltet und reich bebildert mit historischen und eigens von Falk Nordmann angefertigten Illustrationen, erweist sich Ratten als vergnügliche Lektüre, die materialreich in die Welt der Ratten abtaucht und dabei auf die Abwasserkanäle der Menschen stößt: Ein Bericht von einer Symbiose und davon, wie der Mensch, die Welt von sich selbst aus interpretiert.

 

Johanna Lenhart, Studium der Germanistik und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Wien. 2017-2022 OeAD-Lektorin an der Ain-Shams-Universität Kairo, Ägypten, und an der Masaryk-Universität Brno, Tschechische Republik; 2022-2024 externe Lektorin an der Masaryk-Universität; seit 2023 beim Ars Electronica Festival im Projektmanagement im Bereich Demokratiebildung tätig; Redaktionsmitglied der Fachzeitschrift medienimpulse. Beiträge zur Medienpädagogik. Forschungsschwerpunkte umfassen u. a. österreichische Literatur der Gegenwart, Comic sowie Genreliteratur und -film.

Karin S. Wozonig Ratten. Ein Porträt
Illustriert von Falk Nordmann.
Hg. v. Judith Schalansky.
Naturkunden
No. 102
Berlin: Matthes & Seitz, 2024.
ISBN 9783751840163.

Verlaggseite mit Informationen zu Buch und Autorin sowie einer Leseprobe

Homepage von Karin S. Wozonig

Rezension vom 01.07.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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