#Sachbuch

Rebellakatzenthier und Artilleriehund

Oskar Pausch

// Rezension von Evelyne Polt-Heinzl, Christine Schmidjell

Die Restitutionsdebatten finden aktuell ihren Niederschlag auch in der Editions- und Forschungspraxis der Germanistik. So wollte Oskar Pausch, langjähriger Direktor des Österreichischen Theatermuseums, die vorliegende Untersuchung zum Briefwechsel Adele Sandrock / Alexander Roda Roda „so schnell wie möglich“ publizieren, da das zugrundeliegende Korrespondenzmaterial in der Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek und im Österreichischen Theatermuseum in die Rubrik problematische „Erwerbungen“ fällt und „daher jederzeit zu gewärtigen [ist], daß das Konvolut wieder in Privatbesitz kommt und dann möglicherweise nicht mehr zugänglich ist“ (S. 12). Man könnte nun einwenden, daß damit die rechtmäßigen Erben noch rasch vor Klärung der Rechtslage ideell erneut „enteignet“ werden, indem ihnen die Möglichkeit endgültig genommen wird, aus Diskretions- und Geschmacksgründen eine Publikation dieses sehr intimen Briefwechsels – in dem Band ist auffällig häufig von „unseren“ Briefen die Rede – zu verweigern.

Andererseits ist Oskar Pausch durchaus zuzustimmen, daß vornehme Zurückhaltung in Bezug auf persönliche Lebensumstände heute kaum mehr üblich ist. Über die kaum weniger heftige, möglicherweise aber doch weniger innige Affäre Sandrock / Schnitzler sind wir seit der Edition der Tagebücher Arthur Schnitzlers, einer gedruckten Auswahl aus seiner Korrespondenz mit ihr und seiner dramatischen Verarbeitung im Einakter „Haus Delorme“ umfänglich informiert. Auch Roda Roda selbst hat bereits 1950 in seinem Buch „Roda Rodas Roman“ der Affäre aus seiner Sicht ausführlich gedacht. Die Veröffentlichung der erhaltenen Korrespondenz setzt hier zwangsweise einen anderen Akzent: erhalten sind 188 Stücke Adele Sandrocks und nur neun Schreiben Rodas. Berücksichtigt werden in dem Band auch erhaltene Schreiben von Dritten, die sich direkt auf die Affäre Sandrock / Roda Roda beziehen, von seiten der Familie Adele Sandrocks ebenso wie von Freunden und Verwandten Roda Rodas.

Die erste Begegnung der Liebenden fand Anfang Dezember 1900 in der slawonischen Garnisaonsstadt Essegg statt (nachzutragen wäre der im Buch unerwähnte slawische Name: Osijek), einer Hafenstadt an der Drau kurz vor der Mündung in die Donau. Roda Roda, neun Jahre jünger als Adele Sandrock, war hier nach einem abgebrochenen Jus-Studium als Leutnant stationiert. Seine Leichtlebigkeit und Exzentrik – namentlich diverse Reitereskapaden in Cafés und Privathäusern – sorgten in der kleinen Provinzstadt für einige Aufregung. Adele Sandrock war nach ihrem impulsiven Abgang von der ersten Bühne des Landes, dem Wiener Burgtheater, im Jahr 1898 zu strapaziösen Tourneen durch die deutschsprachige Theaterprovinz gezwungen. Im Dezember 1900 nahm sie ein Engagement in Essegg wahr und kam noch an ihrem ersten Abend zu einem der berüchtigten „Gelage“ in die unorthodoxe Junggesellenbleibe Roda Rodas. Die Liaison entwickelt sich rasch und von Adele Sandrock durchaus selbstbewußt gelenkt. Ob und zu welchem Zeitpunkt dabei Spekulationen mitgespielt haben, durch die Verbindung mit einem Angehörigen der k. u. k. Armee der ersehnten Rückkehr an das Burgtheater näher zu rücken, scheint mir nicht so eindeutig belegbar wie Pausch das vermutet.

Was an Adele Sandrocks Briefen berührt und auch erschreckt, ist das Ausmaß, in dem sich hier eine siebenunddreißigjährige Frau rückhaltlos preisgibt und das bei keiner Zeile vergessen läßt, daß diese Briefe eigentlich für Ohren und Augen von Dritten nicht bestimmt sind. Es sind sprudelnde, phantasievolle Sprachorgien an den Geliebten, mit vielen charakteristischen Spracheigenheiten der Schreiberin und einer unbändigen Freude an Verschlüsselung, Geheimcodes und Metaphernspielen. Eines davon hat sich im Titel niedergeschlagen: die schon aus der Schnitzler-Korrespondenz bekannte Lust am Spiel mit Tiernamen. (Der Artilleriehund kommt allerdings nicht, wie in den Vorbemerkungen zu lesen, in Brief Nr. 53 vom 23. Februar 1901 erstmals vor, sondern bereits im Brief Nr. 11 vom 18. Jänner 1901, also etwa einen Monat nach der ersten Begegnung und zwei Tage bevor in einem Brief erstmals Rodas „Adele“-Tätowierung erwähnt wird).

Darüber und darunter vermittelt der Briefwechsel auch den Eindruck eines dichten Sitten- und Zeitbildes. Sichtbar werden nicht nur die unsäglichen persönlichen Familienverhältnisse Adele Sandrocks selbst, sondern ganz allgemein die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Schauspielerinnen in der Theaterprovinz der Kronländer mit der imagemäßigen Gratwanderung zwischen Diva und vacierender Komödiantin. Die umfangreiche Korrespondenz ist darüberhinaus auch ein beredtes Zeugnis der Briefkultur unmittelbar an der Wende zum Telefon, die zeitliche Dichte der Briefe wie die erstaunliche Kürze der Postwege zwischen Slawonien, Budapest, Wien und dem damaligen Deutschen Reich belegen die verblüffende Tüchtigkeit der Post vor einhundert Jahren.

Die geplante Hochzeit der Liebenden kommt wohl aufgrund der erfolgreichen Intrigen der Familie Sandrock nicht zustande, Adele fügt sich erschöpft in ihre Rolle als „Familienerhalterin“ und beendet die Affäre im September 1901. Für Roda Roda wird die unerfüllte Liebe zu Adele Sandrock zu einem Wendepunkt in seinem Leben: er nimmt seinen Abschied aus der Armee und beginnt seine Karriere als Schriftsteller.

Oskar Pausch Rebellakatzenthier und Artilleriehund
Die Affäre Adele Sandrocks mit Alexander Roda Roda 1900/1901.
Mit einer Edition sämtlicher Korrespondenzen.
Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2001.
(Literatur und Leben. 58).
300 S.; geb.; m. Abb.
ISBN 3-205-99364-0.

Rezension vom 16.06.2001

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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