Reise mit Engel. Nirgendwohin ist die Debüterzählung einer 1979 Geborenen, einer 22jährigen also (rechnet man die Druckzeit mit ein). Ein unverkennbar eigener Ton – zwischen frecher Schnoddrigkeit und kindlichem Ernst – weht dem/der LeserIn bereits aus den ersten Sätzen entgegen, der mit der Hauptfigur der Erzählung, Elen Maierhofer, kurz Elen, „elen ohne h“ verschmilzt. Und in dem Hin und Her zwischen Elen und Engel nachgestimmt wird. Ja, (der) Engel ist eine Hilfskonstruktion. Ein feinsinniger Einfall – entstanden aus einer Spiegelung, verunklart durch Bügeldampf – und eine kluge Einrichtung der Hauptfigur, die sich mit seiner Hilfe auf den Beinen hält. Als beinah anagrammatische Gegenfigur zu Elen (ohne g) steht Engel Elen zur Seite, indem er ihr Ratschläge erteilt, sie führt mit ihm aber auch freche Wortwechsel, trägt heftige Gefechte aus, streitet und hadert. Vorweggeschickt: Engel ist (nur) eine Übergangsfigur, aber vorerst kommt er mit auf Reisen.
Der Tod des Vaters soll scheinbar nicht länger Gegenstand von Reflexionen oder Tränen sein. Irgendwie ist da noch ein Rest, doch Elen zieht es „in die welt“ (12). Sie steigt in Vaters Auto – und fährt nach Graz, wo das Leben neu beginnt: als StudentInnenleben. WG, also Wohngemeinschaft, „zwei maedels, drei jungs“, „einmal schwul, einmal lesbisch, einmal unentschieden“ (17), Uni, Bibliotheken, Cafés, Feste und da capo. Elen hält sich an Engels Ratschlag: „und jetzt mach all das, was du noch nie gemacht hast. alles was du willst, alles.“ (14) Doch die Theorie zeitigt sehr bald ihre Tücken, der Reiz, die eigenen Willensvorstellungen umzusetzen, zerreibt sich an den Widerständen des Alltags. Die Mühen der Freiheit stellen sich ein: „immer unterlag alles den bedingungen.“ (52) Elens Unbehagen beginnt sich auszubreiten, ihr Lebensprojekt – „jungsein, sagte ich, das ist, in einem experiment zu leben.“ (51) – droht zu scheitern. Etwas hält Elen gefangen, „das leben ändert sich nicht […]“ und „ich hatte das gefühl, keinen ort zu haben. ich hatte das gefühl, keine heimat zu haben.“ (41) In dieser doppelten Haltlosigkeit, einer gleichzeitigen Wurzel- und Ziellosigkeit erkennt Elen Kennzeichen ihrer Generation: „wir hatten keine ziele mehr. die sinnlose, sinnsuchende, sinnverwehrende generation.“ (52) Doch geht es auch um die locker-coole Distanziertheit und Gelassenheit, die einer Jugendlichen wohl anzustehen scheinen, die aber plötzlich nicht mehr greifen. Dabei kann die strategische Wahrnehmung der Welt als Oberfläche (von aneinander gereihten Banalitäten) durchaus einen gewissen Schutz bieten. Zur Routine geworden, kann sie allerdings auch zum Zwang werden, wie die Hauptfigur in einem plötzlichen Wutausbruch durchscheinen lässt: „sah denn keiner, dass es gar nicht so leicht war, sich dauernd mit geschichten abzulenken, von park zu park und einer party zur anderen und einem sinnlosen rausch zum anderen zu tasten, nur, damit einen die leere nicht auffraß, damit einen die verzweiflung nicht auffraß […].“ (67f.)
In einem schmerzhaften Prozess von Erkenntnissen, Anläufen und Rückfällen versucht die Icherzählerin ihrem Leben einen Halt, eine Richtung zu geben. Die esoterischen „ratgeber für ein erfülltes leben“ oder das „selbstfinder-lexikon“ („werden Sie glücklich, hieß es hier. loskommen von der angst, befreiung zum wahren ich.“) scheinen hierzu ungeeignet. (43) Und Engel, der in ihrem Leben inzwischen „eine bestimmende rolle eingenommen hatte“ (46), bringt sie in Verlegenheit: „jeder anfang (sollte) ein ende haben, um einen neuen anfang anzufangen.“ (46) Um sich einen Pass zu verschaffen, müsste Elen zurück in ihr „haus“, ihr Elternhaus, ihr Vaterhaus, um die Papiere zu holen. „nein, ich wehrte mich. dann brauche ich keinen pass, beschloss ich.“ (41) Etwas hält sie zurück. Dazwischen tritt Simon in ihr Leben: „es war die zeit der veränderung. plötzlich schien ich zu leben, schien ich, elen, ein eigenes leben zu besitzen […].“ (65) Aber auch diese Veränderung scheint nur symptomatisch, nicht anhaltend genug zu sein. Nachts wird Elen von Stimmen verfolgt, von Träumen gerüttelt, der Vater taucht auf, „und ich träumte von mädchen, die mit spiegeln durch die straßen liefen und eine mutter suchten, und von brennenden gedichten, die in die nacht gesagt werden […]“ (58). Verknüpft mit der Suche nach einem Selbst ist die Suche nach einer eigenen Ausdrucksweise: „wie konnte man zurückfinden, zu einer sprache, wie ohne wunden schreiben?“ (58) Die Passgeschichte wird zu einer zentralen Metapher der Erzählung. Die Icherzählerin erkennt allmählich, dass sie sich selbst gefangen hält, dass sie sich selbst eine Grenze zieht, die sie zugleich passieren möchte. Ein weiteres Déjà-vu-Erlebnis reißt Elen schließlich vollends aus der Bahn und erinnert sie an den Engelspakt, den „faustenpakt“ mit Engel. „manchmal muss man dinge so oft wiederholen, bis man sie überwunden hat und aus dem hindernis ein sprungbrett wird.“ (71)
Elens Konfrontation mit der Vergangenheit, mit dem „drache[n] vergangenheit“ (71), stellt eine der irritierendsten Stellen des Buches dar und sticht durch ihre verrätselte Struktur und sprachliche Intensität hervor. Nicht zufällig erinnert sie an die traumatisch-traumhaften Sequenzen des Zweiten Kapitels in Bachmanns Malina-Roman. Weist doch die Konstellation zwischen Elen und Engel unübersehbare Parallelen mit jener zwischen der Icherzählerin und Malina in Bachmanns Roman auf. Wie denn auch die unterschiedlichen Akzentuierungen unverkennbar sind. Während das namenlose Ich in Bachmanns Todesarten-Roman am Ende gänzlich in seine Namenlosigkeit verbannt wird, verschwindet, und Malina sich ihrer gar nicht mehr entsinnen kann, hat die Icherzählerin in „Reise mit Engel. Nirgendwohin“ einen Namen und auf der vorletzten Seite wird sie mit Emphase von sich sagen: „ich war ich, elen m.“ (121) Wenn Engel dagegen an Züge Malinas erinnert, so ist doch zugleich die Differenz selbst in prekären Momenten spürbar: „manchmal verbrauchte engel so viel luft, dass ich mir sorgen machte, irgendwann würden wir ersticken.“ (22) Die Gefahr des Erstickens schließt beide mit ein. Und schließlich ist es Engel, der sich eines Tages auf einmal davonmacht. Engels Verschwinden ist jedoch nicht unwiderrufbarer Art. In surrealistischer Manier wird er sich zurückmelden. Auf diese Weise bleibt Schiefers Erzählung durch die zahlreichen Anspielungen einerseits Hommage an Bachmann wie sie andererseits aus der Mitte der Realitätswelten ihrer Hauptfigur hervortaucht. Elens Erfahrungen und Befindlichkeiten deuten zugleich diejenigen einer neuen Jugendgeneration an, die nach einem eigenen Verständnis und Ausdruck ringt und sich hierbei mit ihren Sehnsüchten und Ängsten, ihren Hoffnungen und Verzweiflungen zurechtzufinden sucht. Mögen die optimistischen Gefühlsdurchbrüche, die auch auf das Ende der Erzählung ausgreifen, mitunter den Skeptiker aufrufen. Im Changieren zwischen Coolness und Naivität, zwischen Ironie und Melancholie, zwischen strategischer Oberflächlichkeit und lodernder Intensität gewinnt dieses erstaunliche Debüt mit seinem bezeichnenden Leichtschritt nachhaltig an Glaubwürdigkeit.