#Roman

Reise nach Laredo

Arno Geiger

// Rezension von Veronika Hofeneder

Mit großer Leichtigkeit und sprachlicher Raffinesse erzählt Arno Geiger von Kaiser Karl, der erst nach seinem Rücktritt und der Abgabe von Macht und Ämtern wahre Freiheit und Souveränität kennenlernt.

Die Reise nach Laredo unternimmt in Arno Geigers neuem Roman der zurückgetretene Kaiser Karl V. (1500–1558) gemeinsam mit seinem (unehelichen) Sohn Geronimo und dem Geschwisterpaar Honza und Angelita, die der diskriminierten und heute nicht mehr existierenden, vor allem in Spanien und Frankreich lebenden Bevölkerungsgruppe der Cagots angehören. Das historische Setting im nördlichen Spanien in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ist damit klar umrissen, wird allerdings durch eine Liedzeile aus dem – u. a. auch von Johnny Cash interpretierten – Country-Song Streets of Laredo, die dem Roman als Motto vorangestellt ist, sogleich sanft unterlaufen und zeitlos gemacht. Die Einsicht „I know I’ve done wrong“ (die auch bei so manchen der heutigen Macht- und Würdenträger:innen wünschenswert wäre) bestimmt Karls letzte Lebensjahre fernab von Pflichten und Zwängen der Macht.

Mit Hilfe des elfjährigen Geronimo beschließt der ehemalige Souverän sein bislang fremdbestimmtes Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und „durch[zu]brennen“ (S. 32). Die klösterliche „Einsamkeit von Yuste“ mit den „siebenundvierzig ihm dienstbare[n] Menschen“ (beides S. 12), die doch nur auf seinen Tod warten, interessieren ihn schon lange nicht mehr. Alters- und krankheitsbedingt geschwächt, schafft es Karl dabei allerdings nicht auf das – zwar standesgemäße, aber zu hochgewachsene – Pferd, sondern muss mit dem niedrigeren Maultier vorliebnehmen. Karl sieht es letztendlich pragmatisch: „Lieber Regen und ein Maultier als erfolgloses Nachdenken über mich selbst.“ (S. 54)

Befreit von Konventionen und Standesdünkeln, erfährt Karl auf dieser Reise auch viel Neues über sich selbst. Beispielsweise wenn er Geronimos Fragen nach Lieblingsbeschäftigung oder -essen beantworten soll – Dinge, mit denen er sich bislang nicht beschäftigt hatte. Außerdem entdeckt der ehemalige Monarch zunehmend seine persönliche Freiheit und wächst im Laufe der Reise immer mehr über sich selbst hinaus.

So kompensiert er auch die mangelnde Exekution seiner legislativen Beschlüsse: Denn obwohl er eigentlich während seiner Regierungszeit die Gesetze zur Benachteiligung der Cagots abgeschafft hat, muss er die brutale Misshandlung des Geschwisterpaars Honza und Angelita mitansehen. Mit neu erstarkter Handlungsbereitschaft befreit er die beiden mit zitternder Waffe, aber immerhin wirkungsvollem Schreckschuss aus der Gewalt ihrer Peiniger und bringt den schwer verwundeten Honza zu einer heilkundigen Frau. In der abgeschiedenen Waldklause kommt dieser wieder zu Kräften und Karl entdeckt die Freude an handwerklichen Tätigkeiten für sich.

Viele Abenteuer und Erfahrungen später erhält Karl von Angelita das Kompliment, ein „klasser Kerl“ (S. 240) zu sein und dieser ist am Ziel seiner Wünsche angelangt: „Als Person angenommen zu werden, gemocht zu werden um seiner selbst willen – jetzt hatte er es.“ (S. 241)

Die auf den ersten Blick lässige, ja beinahe schon flapsig wirkende Wortwahl Geigers an dieser Stelle zeigt seine sprachliche Raffinesse und sein ausgeprägtes Gespür für Ironie. Denn damit erhält sein Erzählen über die großen und ernsthaften Themen des Lebens – hier: Macht, Freiheit, Alter, Krankheit und Familie – eine Leichtigkeit, die in ihrer Eindringlichkeit noch lange nachhallt. Auch die Feststellung „[…] das war’s.“ (S. 250) am Ende des Romans, die Karls Verschwinden im Meer kommentiert, ist so einfach-lapidar wie genial.

Mit dem ihm eigenen Blick für Details und Zwischentöne vermag Geiger auch im Genre des historischen Romans zu begeistern.
Von Tizian, der das ikonische Kaiserporträt von Karl V. angefertigt hat, stammt der Ausspruch, dass ein Kunstwerk erst dann fertig sei, wenn man den letzten für notwendig gehaltenen Pinselstrich unterlasse. Diesen hat Geiger ganz und gar verinnerlicht: „Vollendung existiere nicht, es gebe nur das Aufhören.“ (S. 230) In diesem Sinne hat Geiger auch mit Reise nach Laredo einmal mehr unter Beweis gestellt, welch außergewöhnlicher und brillanter Erzähler er ist.

 

Veronika Hofeneder ist freie Literaturwissenschaftlerin und Lehrbeauftragte am Institut für Germanistik der Universität Wien. Leitung und Durchführung mehrerer wissenschaftlicher Editionsprojekte zu Gina Kaus und Vicki Baum, derzeit Arbeit an einer Werkausgabe von Vicki Baum im Rahmen eines DACH-Projekts (FWF/DFG). Forschungsschwerpunkte: Literatur und Kultur der 1920er- und 1930er-Jahre, Österreichische Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Literatur von Frauen, Literatur und Individualpsychologie, Feuilletonforschung. https://www.germ.univie.ac.at/veronika-hofeneder/

Arno Geiger: Reise nach Laredo
München: Hanser 2024.
272 Seiten, Hardcover.
ISBN 978-3-446-28118-9.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autor sowie einer Leseprobe

Rezension vom 20.11.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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