Das Erzähler-Ich des Versuchs entwickelt sich in drei Phasen. Am Anfang deklariert es sich, mit Berufung auf den „unverdächtigen Zeugen“ Kafka, als Schriftsteller, als Angehöriger einer Profession, die in der Öffentlichkeit „ausgespielt“ hat, mit einem bloß persönlichen, aber seit der Jugend bestehenden Interesse an Prozessen, Angeklagten und „Unschuldsgeschichten“. Die „altmodische“ Faszination für Beschuldigte richtet sich auf den angeklagten ehemaligen Jugoslawien- und Serbien-Präsidenten Slobodan Milosevic, „auf die Besonderheit eines Angeklagten, welcher, obwohl der Prozeß gegen ihn noch über anderthalb Jahre dauern soll, schon im voraus verurteilt ist“ (S. 15). Im zentralen Stück des Texts werden Beobachtungen von Besuchen bei Verhandlungen des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag 1998 und 2002 mitgeteilt. Der Beobachter stellt sich abseits des Prozessgeschehens, sein Blick konzentriert sich nicht auf die Dramatik oder Dramaturgie des Tribunals, sondern auf das Ephemere rund um das Tribunal, das es im Hotel, am Nordseestrand zu entdecken gibt. Von dort aus, als Zaungast, aus der Perspektive des scheinbar Unbeteiligten und Neutralen, werden Eindrücke von der Rollenverhaftetheit mancher Prozessbeteiligter eingefangen. Zum Beispiel von einer Gruppe Albaner. Ganz unbeteiligt und neutral ist der Beobachter aber nicht, er bekennt sich an einer Stelle als Freund eines serbischen Angeklagten und unschuldig Verurteilten. Im Schlussteil geht die Beobachtung und Beschriftung des scheinbar Nebensächlichen dann über in den großen Aufruf zur Überwindung der Vorurteilshaftigkeit (siehe Leseprobe).
Was an Handkes Forderungen nach „Gerechtigkeit für Serbien“, die er in der „Winterlichen Reise“ schon erhoben hat, die nun im „Großen Tribunal“ wieder anklingen, provoziert, ist nicht bloß die engagierte Zurechtrückung eines falschen oder einseitigen Serbien-Bildes, des alten antiserbischen Stereotyps. Es geht um wesentlich mehr: In der Serbienreise und den Beobachtungen rund ums Tribunal wird das posthistorische Einverständnis der europäischen Intellektuellen mit der Macht (EU, NATO, USA) radikal hinterfragt. In Handkes Fragesätzen stellt sich die langatmig-machtlose Schrift gegen die homogenen Bilderwelten der audiovisuellen Medien und den journalistischen „Zwang zu kürzeren und noch kürzeren Sätzen“. Handkes Detailbeobachtungswut zerfetzt die Pseudoauthentizität der Medienbilder, sie will ein Heraustreten aus den „Kreisen“ medial vermittelter Notwendigkeiten und Selbstverständlichkeiten – die notwendigen Bombardments, die selbstverständlich Schuldigen! – erzwingen. Im Zwischenraum, nach der zerstörten Glaubwürdigheit, setzt sich eine fragile Utopie Adornoscher Prägung fest, ein „Negatives gegen das Bestehende“ (Ästhetische Theorie) deutet sich an, die Möglichkeit eines utopisch Anderen. Und das hebt Handkes Beschriftung der scheinbar normalsten und notwendigsten, aber trostlosesten und verlogensten großen und kleinen Begebnisse und Dinge über alles hinaus und hält ihn lesenswert.
Vom Kosovo-Krieg über Afghanistan bis zur Irak-Besetzung hat sich im europäischen intellektuellen Diskurs mittlerweile wieder ein Umschwung vollzogen. Es mag sein, dass das Antreten des Nur-Schriftstellers gegen die große Medienmaschine mit ihrer getürkten Kriegsberichterstattung mehr an Zustimmung und die Handke-Gefolgschaft wieder an Boden gewinnt. In der Schrift Rund um das große Tribunal folgen die kleinen Schläge – viele Fragesätze – gegen das homogenisierte Bewusstsein der Weltöffentlichkeit am Ende so rasch aufeinander und das Büchlein ist so schnell ausgelesen, dass man, durstig nach Fragezeichen, am liebsten sogleich wieder von vorne beginnen möchte.