#Sachbuch

Scharfrichter der
bürgerlichen Seele

Eva Züchner (Hg.)

// Rezension von Claudia Holly

Der vorliegende Band, zu dessen Erscheinen die Berlinische Galerie die Ausstellung „Raoul Hausmann und seine Freunde“ veranstaltet hat, bildet ein weiteres Mosaiksteinchen zum Verständnis des Schriftstellers, Künstlers, Fotografen, Erfinders, Wissenschafters und Autodidakten Raoul Hausmann. Die Mitarbeiter der Berlinischen Galerie, allen voran Eva Züchner, setzen sich seit Jahren die Aufarbeitung der Nachlässe von Raoul Hausmann und Hannah Höch, zweier bedeutender Vertreter der historischen Avantgarde, zum Ziel. In Zusammenhang mit den beiden bisher erschienenen Bänden der geplanten Trilogie Hannah Höch. Eine Lebenscollage ist nun auch die Behandlung der Berliner Jahre Raoul Hausmanns als durchaus komplementäre Ergänzung zu sehen, insbesondere den Zeitraum von 1915 bis 1922 betreffend, als Hausmann und Höch eng befreundet waren.

Das Puzzle der über verschiedene Länder und Institutionen verstreuten Nachlaßteile nimmt immer schärfere Konturen an. Ein großer Verdienst kommt dabei der Berlinischen Galerie zu (u. a. Raoul Hausmann-Ausstellung „Der deutsche Spießer ärgert sich“, 1994), aber auch die Aufarbeitung des Limoger Hausmann-Nachlasses durch Grazer Wissenschafter (Adelheid Koch u. a.) sowie ein 1997 im Grazer Droschl-Verlag erschienenes Dossier Raoul Hausmann bringen Licht in die (teils unglückliche) Künstlerlaufbahn eines schon zu Lebzeiten Vergessen.

Der Grundstein des Hausmannschen Oeuvres ist mit Sicherheit in seinen Berliner Jahren zu suchen. Nach der Übersiedlung mit seinen Eltern 1900 von Wien in die Hauptstadt des Deutschen Kaiserreichs erschließt sich dem Jugendlichen (Hausmann flog bald von der Schule und assistierte seinem Vater, der als Hofmaler nach Berlin berufen wurde) das pulsierende Umfeld einer Kulturstadt, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts für Avantgardebewegungen wie den Expressionismus Nährboden werden sollte. Hausmann versucht sich früh in der Pose des Künstlers, durchwandert aber – wie viele seiner berühmten Kollegen – die herkömmlichen Entwicklungsstufen, die seine Anfangsarbeiten epigonenhaft erscheinen lassen.

1905 lernt er die um zehn Jahre ältere Geigerin Elfriede Schäffer kennen, die ihn während seiner Berliner Jahre begleiten wird. Aus der konventionell gestrickten Familiensituation (Hochzeit, Geburt der Tochter Vera) sucht der umtriebige Geist auszubrechen, indem er in den Ideen des Grazer Freud-Schülers Otto Gross vom Eigenen und Fremden die Rettung aus der patriarchalischen Gesellschaftsform sieht. Mit dem Beziehungsdreieck Hausmann, Elfriede Schäffer und Hannah Höch scheitert der erste Versuch einer gesellschaftspolitischen Neudefinition der Mann-Frau-Beziehung. Diese intensive persönliche Auseinandersetzung ist genauestens im Nachlaß Hannah Höchs, sprich in Eine Lebenscollage, dokumentiert, nur wenige Briefe aus dem Hausmannschen Fundus geben darüber Aufschluß.

Nach einer kurzen kubistischen Phase bringt Hausmann gemeinsam mit dem Grabmalsarchitekten Johannes Baader, dem aus Zürich nach Berlin zurückgekehrten Arzt Richard Hülsenbeck, John Heartfield, George Grosz und Hannah Höch die traditionelle Kunstauffassung gehörig ins Wanken. Hausmanns Korrespondenz bis in die frühen zwanziger Jahre (v. a. mit Höch, Baader, Kurt Schwitters, den Philosophen Salomo Friedländer und Ernst Marcus) belegt eine Beschäftigung mit Themen, die künstlerische Belange sprengen. Diese Tendenz sollte vor allem nach dem Auseinanderbrechen der dadaistischen Formation Blüten treiben. Hausmann ist an allen innovativen Geistesbewegungen und formalen Fragen interessiert, sofern sie das herkömmliche Weltbild revolutionieren. Die monatelange Auseinandersetzung mit der Theorie der Welteislehre – vertreten durch den Wiener Paul Hörbiger (Vater von Attila und Paul) – mag nur als ein Beispiel unter vielen gelten.

Nach der Trennung von Hannah Höch läßt sich Hausmann scheiden und ehelicht die Malerin Hedwig Mankiewicz. Mit ihr gemeinsam sollte das Unternehmen „Offene Zweierbeziehung“ funktionstüchtig gemacht werden; beteiligt sind die aus Rußland stammende Vera Broido und – nicht zu vergessen – Elfriede Hausmann. Einzig aus der Feder seiner ersten Frau erfährt man zu Beginn der dreißiger Jahre von dem Mangel an emotionaler Gleichberechtigung.

Ab Mitte der zwanziger Jahre beginnt sich Hausmanns zukünftiges Dilemma abzuzeichnen. Sowohl als Erfinder des Optophons, Resultat seiner intensiven Beschäftigung mit dem Phänomen der Sinneswahrnehmungen, als auch als Fotograf und Filmtheoretiker scheint ihm kein Erfolg beschieden. Mühsam geknüpfte Kontakte brechen wieder ab, nicht zuletzt aufgrund seines cholerischen Temperaments. Er beginnt förmlich um Aufträge bei Zeitschriften, um Ausstellungsmitarbeit, um Vorträge (etwa am Bauhaus) zu betteln. Vor allem aber in der Zuspitzung der wirtschaftlichen und politischen Lage in Deutschland liegt der Grund für die Emigration nach Ibiza 1933.

Die Auswahl an Briefen und Dokumenten aus dem Raoul Hausmann-Archiv der Berlinischen Galerie ist ein mustergültiges Unternehmen. Penibel sind Personen, Publikationen, zeitgeschichtliche und sonstige Daten recherchiert und aufgeschlüsselt. Ein umfangreicher Anhang bildet den Abschluß eines Künstlerportraits, das im weitesten Sinn erahnen läßt, welch außergewöhnliche Persönlichkeit Raoul Hausmann innerhalb der Umbrüche des ersten Jahrhundertdrittels gewesen ist.

Eva Züchner (Hrsg.) Scharfrichter der bürgerlichen Seele. Raoul Hausmann in Berlin 1900-1933.
Ostfildern: Hatje, 1998.
532 Seiten, gebunden, mit Abbildungen.
ISBN 3-7757-0549-X.

Rezension vom 16.06.1998

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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