#Prosa

Schiff aus Stein. Orte und Träume

Karl-Markus Gauß

// Rezension von Alexander Kluy

Das Ausland muss Österreich immens beneiden. Nicht wegen der Berge oder der Skipisten, noch wegen der kulinarischen Genüsse wie Tafelspitz,  Lesachtaler Brot oder Zaunerstollen. Nein, ganz Europa wünschte sich wohl national jeweils einen „eigenen“ Karl-Markus Gauß.
Am 14. Mai dieses Jahres wird der in der Salzachstadt geborene und aufgewachsene Autor, der in Salzburg maturierte und studierte, der nie woanders ansässig gewesen und zugleich einer der rastlosesten, literarischen Reisenden der Gegenwartsliteratur ist, 70 Jahre jung. Der Band Schiff aus Stein. Orte und Träume ist ein prächtiges Geschenk – nicht nur an den Autor, vor allem an seine Leser:innen.

Fast sein halbes Leben edierte Karl-Markus Gauß die Zeitschrift Literatur und Kritik mit sicherer Hand und mit stupenden Tiefenblicken und exquisiten Netzwerken in Mittel- und Mittelosteuropa. Inzwischen gibt es nicht wenige germanistische Promotionsarbeiten über ihn, die in Österreich, Polen und Kanada entstanden sind. Ein Problem stellt sich angesichts der Ehrungen, die ihm bisher zuteil wurden, vom Prix Charles Veillon über die nach Manès Sperber und Johann Heinrich Merck benannten Auszeichnungen bis zum Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2022: Welche Ehrung kann ihm denn mit Ausnahme eines bestimmten Awards aus Skandinavien, dem Literaturpreis aller Literaturpreise, überhaupt noch verliehen werden?! 

Auf signifikante wie individuell-belletristische Weise unterscheidet sich Gauß von englischen, erst recht von nordamerikanischen „travel writers“ wie auch von jenen der Frankophonie. Vielleicht am nächsten kommt ihm, in ganz andrer Manier, der Triestiner Paolo Rumiz. Doch keiner ist so neugierig und verliebt in Mittelosteuropa, keiner ein so empathisch hartnäckiger Begeher von Orten, Ortschaften, Dörfern und Landschaften wie er.

Während Gauß im Vorgängerband Die Jahreszeiten der Ewigkeit, eine Sammlung von Einträgen der Jahre 2014 bis 2019 plus einem auf das erste Halbjahr 2020 datierten Epilog, vieles zur Sprache brachte – Politik und Abendessen-Diskussionen, Nachrufe und Nachgerufenes, Aufgespießtes aus Zeitungen oder dem Radio, Moral und Unmoral, Gefühle und Groteskes, Stasis und Verwandlung, Porträts von Freunden wie von vergessenen Autoren, etwa dem Salzburger Gerold Foidl – und er auch manches glossierte, teils erheitert, teils echauffiert, nicht selten auch wütend, ist er nun, in Schiff aus Stein, leichter und entspannter. 

Es sind kurze Einträge, viel mehr Vignetten als die vom Verlag annoncierten „Miniaturen“. Es sind Porträts von Gassen und Ecken in aufgesuchten Städten, Erinnerungen an Erlebtes, aber auch Träume. Sie datieren aus rund fünfzehn Jahren und haben ihre geografischen Wurzeln in Albanien, Italien und Istrien, in Kroatien und in der ostfranzösischen Region Bourgogne-Franche-Comté.  

Wovon alles handelt? Von Beobachtetem des Gehers, der kein Wanderer (zu wettkampfmäßig) und kein Flaneur (zu snobistisch) ist, von Erkundungen von Orten weit abseits konventioneller Reiserouten. 

Es sind weitere Einträge, die sich zu einem Album der Schönheiten im Hässlichen summieren. Mit ganz wenigen Strichen konturiert Gauß, manchmal fast noch eleganter als in seinem bisherigen Œuvre, Zufallsgespräche mit einem Friseur, Impressionen – eine Alt-Hippie-Dame, die mit Stolz bettelt –, Räsonnements während einer Lesung, Gedächtniskurven und Erinnerungsschleifen an einen besonders starken Bora-Gewittersturz. Immer wieder eingestreut sind Gedanken über Lesen und Schreiben, über Gelesenes und Geschriebenes, über Joseph Joubert und Lew Tolstoj, über ein Essen in Novi Sad mit Lászlo Végel, Autor des Novi Sad-Romans Neoplanta.

Am Ende kreist es ums Ende. Es geht um Verfall und Krankheit. Im letzten Text schildert Karl-Markus Gauß seine episodischen Schwindelanfälle – der medizinische Fachausdruck lautet Benigne paroxysmale positionale Vertigo – die bewirken, dass das Gleichgewicht gestört ist, es manchmal zum Kollaps und zu Stürzen kommt, weil sich winzigste Ohrsteinchen, so genannte Otolithe, im Innenohr sacht verschieben. So verabschiedet sich Gauß selbstironisch mit den drei letzten Worten als „Mann ohne Gleichgewicht“.

Dieses schlanke, anmutige, klug ausbalancierte Buch dürfte zu Gaußens schönsten Werken zählen.

 

Alexander Kluy ist Autor, Kritiker, Herausgeber, Literaturvermittler. Zahllose Veröffentlichungen in österreichischen, deutschen und Schweizer Zeitungen und Zeitschriften. Editionen, zuletzt Felix Dörmann – Jazz (edition atelier, 2023) und Egon Erwin Kisch – In Hollywood wächst kein Gras (Limbus Verlag, 2023). Zahlreiche Buchveröffentlichungen, zuletzt in der edition Atelier die Bände Der Regenschirm. Eine Kulturgeschichte (2023) und Giraffen. Eine Kulturgeschichte (2022) sowie im Corso Verlag Vom Klang der Donau (2022).

Karl-Markus Gauß Schiff aus Stein. Orte und Träume
Wien: Zsolnay Verlag, 2024.
144 Seiten, Hardvcover.
ISBN 978-3-552-07387-6.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autor sowie einer Leseprobe

Rezension vom 12.05.2024

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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