#Sachbuch

Schriftenreihe akte exil

Hermann Haarmann (Hg.)

// Rezension von Ursula Seeber

Eine neue Schriftenreihe ist anzuzeigen: akte exil des Instituts für Kommunikationsgeschichte und angewandte Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin. Herausgegeben wird sie von Hermann Haarmann, Leiter des 1988 gegründeten Instituts, das sich durch Editionen von Alfred Kerr, Julius Bab oder Erwin Piscator und durch eine Reihe von Forschungsprojekten über Exilpublizistik als Arbeitsstelle zum deutschsprachigen Exil empfohlen hat.

Mehr als fünfzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind zahlreiche literarische Texte und Dokumente des Exils noch völlig unbekannt: sie ruhen versteckt in Archiven, befinden sich in privaten Sammlungen oder seltenen Exemplaren von Exilzeitschriften in Bibliotheken. Wie die von Deborah Vietor-Engländer im Lang Verlag herausgegebene Reihe Exil-Dokumente (zuletzt erschien Karl Ottens bisher unpublizierter Roman Die Reise nach Deutschland von 1937/38) versteht sich auch akte exil als „Forum der Dokumentation, der wissenschaftlichen Aufbereitung und Auswertung von Quellen, die Zeugnis ablegen von den Folgen der nationalsozialistischen Diktatur“. Das Format der Reihe ist offen und soll für Editionen und Neuauflagen, Anthologien, Monografien und Analysen Platz bieten, der Schwerpunkt liegt auf unveröffentlichten und unbekannten Dokumenten. Aus dem Nachlaß des aus der Agitproptheater-Bewegung kommenden Schauspielers und Regisseurs Maxim Vallentin stammen die Dokumente für Band 1. Die Briefe an seine Frau Edith spiegeln lebhaft die Bedingungen, unter denen die Theaterleute im sowjetischen Exil Stücke russischer Autoren, antifaschistische und „klassische“ deutschsprachige Stücke realisierten, darunter 1937 ein legendäres Ibsen-Projekt am Deutschen Akademischen Staatstheater der Wolgastadt Engels (mit interessantem unbekanntem Fotomaterial zu dieser Nora-Inszenierung). Zugleich wird das Scheitern der Truppe im System stalinistischer Denunziationspolitik transparent. Kurzbiografien der Künstler und ein Glossar ergänzen die Dokumentation.

„(…) will ich nicht versäumen mitzuteilen, dass Walter Benjamin der einzige Mensch in Marseille war, der in jener Zeit nicht immer nur von Visen, Weltpolitik und Fluchtmöglichkeiten sprach. Es gab hin und wieder einen Tag, wo er fast ausschließlich von Literatur mit mir sprach“, schreibt Soma Morgenstern 1973 im Bericht über seinen engsten „Angst-Bruder“ Walter Benjamin an Gershom Scholem – eines von zahlreichen bisher unveröffentlichten Dokumenten zu Benjamins Exil aus Band 2.

Das Subjektive und Private grundiert naturgemäß diese Texte von Stefan und Dora Benjamin, Asja Lacis, Elisabeth Hauptmann, Margarete Karplus(-Adorno), Max Aron oder Werner Kraft, die Benjamin als Vater und Bruder, Freund, Geliebten, Arbeitspartner oder Mithäftling porträtieren, jedoch ohne aufdringlich oder redundant zu wirken. Im Koordinatensystem der politischen Ereignisse, der Alltags- und Mentalitätsgeschichte des Exils bildet sich in den Briefen und Erinnerungen eindrucksvoll die persönliche und intellektuelle Physiognomie Benjamins ab. Nicht nur wegen ihres Österreich-Bezugs sei hingewiesen auf die Briefe von Dora Sophie Benjamin aus Berlin und später Italien (die Antwortbriefe Benjamins sind leider nicht erhalten). Im familiär verschlüsselten Code tauschte sich das (seit 1930 geschiedene) Paar über die NS-Zensur hinweg über die Ausbildung ihres zeitweise in Wien lebenden Sohnes Stefan und andere „elterliche“ Themen aus, gab Nachrichten über Familienmitglieder und Freunde weiter und diskutierte Möglichkeiten der Arbeitsbeschaffung für Benjamin. Der Band versteht sich – und das gilt auch für die beiden andern – als Leseausgabe. Die Kommentierung ist vom Umfang her angemessen, impliziert nicht den allwissenden Leser und lenkt auch nicht von den Texten selbst ab.

In diesem Sinn pragmatisch wirkt die Transkription, bei der offensichtliche Verschreibungen normalisiert, stilistischen Eigenheiten der Briefschreiber jedoch weitgehend Rechnung getragen wurde. Im Kommentar und in der Einleitung fallen Druckfehler auf, eine Hypothek auch von Band 3. Wie schwierig es sein kann, die Balance zwischen Authentizität der Vorlage und Lesbarkeit zu halten, zeigt etwa das elliptische Schreiben von Leon Askenasy/Leon Askin an Erwin Piscator (18. März 1939) aus der Briefsammlung Abschied und Willkommen. Auch dieser dritte Band von akte exil beeindruckt durch die große Zahl unbekannter, unpublizierter Texte von Julius Bab, Anna Seghers, Ferdinand Bruckner, George Grosz, Alexander Granach, Friedrich Wolf, Siegfried Kracauer, Johannes R. Becher, Hans Sahl, Elisabeth Bergner oder Oskar Maria Graf, fast alle aus Archiven der Berliner Akademie der Künste. In der Chronologie 1933 bis 1945 geben sie preis, was der existentielle Bruch des Exils für die Vertriebenen bedeutete: berufliche und gesellschaftliche Ausgrenzung, materielle Sorgen und Lebensangst, Kampf um die Rettung der eigenen Produktivität, Suche nach Strategien des politischen Widerstands oder auch: Abschied vom Leben. Es ist dem Herausgeber gelungen, aus längeren Briefwechseln Beispiele auszuwählen, die nicht ausführlicher Kontextualisierung bedürfen und, aus dem Zusammenhang genommen, nicht banal oder nur privat erscheinen. Solitäre sind jedenfalls Alfred Kerrs Bittbrief aus dem Schweizer Exil an den Verleger des Berliner Tageblattes (25. März 1933), Arnold Zweigs Brief an „Vater“ Sigmund Freud (21. April 1934) über seine ersten Eindrücke von Palästina, Fritz Kortners Brief an seine Frau Johanna (13. Dezember 1937) und die tragisch-lakonische Postkarte des Berliner Musikwissenschaftlers Kurt Singer aus Theresienstadt (7. Mai 1943) an Fritz Silten.

Die Informationen über die Briefpartner sind ungleich verteilt: Während die annotierten Biografien Auskunft über die Schreiber geben, müssen die Empfänger erst in den Anmerkungen aufgespürt werden oder fehlen (wie z. B. bei Fritz Silten) ganz.

Diese Anthologie ist mehr als eine Sammlung neuer Quellen für ein Fachpublikum, sie dürfte sich in ihrer Stimmenvielfalt auch als Materialienband für den Unterricht, für Lesungen und Veranstaltungen gut bewähren.

Die ersten drei – buchgrafisch ansprechenden – Bände der Reihe erhalten im Herbst Verstärkung durch eine Neuausgabe von Hans Sahls 1938 erstmals publiziertem Oratorium Jemand. Man darf gespannt sein auf weitere Fundstücke, die Verleger Klaus Siebenhaar bei der Präsentation von akte exil im Literaturhaus angekündigt hat.

„Hier brauchen sie uns nicht.“ Maxim Vallentin und das deutschsprachige Exiltheater in der Sowjetunion 1935-1937.
Briefe und Dokumente.
Herausgegeben von Peter Dietzel.
Berlin: Bostelmann & Siebenhaar, 2000. (akte exil.1).
320 Seiten, broschiert, mit Abbildungen.
ISBN3-934189-46-6.

Was noch begraben lag. Zu Walter Benjamins Exil.
Briefe und Dokumente.
Herausgegeben von Geret Luhr.
Berlin: Bostelmann & Siebenhaar, 2000. (akte exil.2).
290 Seiten, broschiert.
ISBN3-934189-47-4.

Abschied und Willkommen.
Briefe aus dem Exil (1933-1945).
Herausgegeben von Hermann Haarmann.
Mitarbeit: Toralf Teuber.
Berlin: Bostelmann & Siebenhaar, 2000. (akte exil.3).
311 Seiten, broschiert.
ISBN 3-934189-47-4.

Rezension vom 03.07.2001

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.