Der Leser stößt gemeinsam mit dem Erzähler in die Tiefen eines Malerlexikons vor, und wie es im kreativen Dahinblättern oft üblich ist, tritt plötzlich der Maler Victor Emil Janssen plastisch in Erscheinung und breitet in einem markanten Story-Board sein Leben aus.
In eingeweihten Kreisen gilt der Hamburger Maler Victor Emanuel Janssen, der von 1807 bis 1845 lebte, als durchaus eigenständiger Vertreter der sogenannten Nazarener-Bewegung. Seine wichtigsten Stationen waren München und Rom, bemerkenswert sind seine unendlich sorgfältigen Papstporträts, die jeweils in einem Porträt die gesamte Zeitgeschichte auszudrücken versuchen.
Der Erzähler schweift nun, während er sich an der Künstlerbiografie beinahe melancholisch ergötzt, in die eigene Kindheit ab und trifft in der Erinnerung auf Stilleben aus der eigenen Vergangenheit. Wie das Kind lernen mußte, die Welt zu begreifen, muß der Künstler vorgehen, um die Welt angemessen zu interpretieren.
Unvergessen sind die knochenharten Übungen, mit denen sich der Maler an die Materie heranarbeitet, der Widerspruch zwischen dem feinen Strich und der schweren Erkenntnis, die den Strich ausführen läßt.
Der Erzählstrom macht ab und zu an biografischen Daten des Malers Halt und malt diese mit Erlebnissen des Betrachters aus. Begleitend kommentiert ein Kunstführer verschiedene Techniken und Bildmotive. Mit der Zeit entsteht ein inniger Kontakt zwischen dem Bild vom Maler und seiner Vorstellung im Leser. Als Höhepunkt wird der Betrachter quasi selbst zum Künstler und der Leser findet sich gar als Gemälde seiner eigenen Leseerfahrung wieder.
Ludwig Lahers raffinierter Wechsel der Perspektiven bringt ein beschwingtes Drehmoment in die Erzählung. Die Figuren und Bilder erscheinen teils abgelöst von der Zeitgeschichte, teils aufgehoben in aktueller Gegenwart und erheben sich damit in eine zeitlose Aura künstlerischer Realität.
In Selbstakt vor der Staffelei ist eindrucksvoll vorgeführt, wie sich Bildelemente in eine brauchbare Erzählsprache transferieren lassen, wie die größte Anstrengung mit der größten Leichtigkeit vergehen kann, und wie nur der ständige Blickwechsel einen brauchbaren Blick garantiert.
So gesehen erfährt der Leser über den Umweg der Malerei fast alles über sein eigenes Leben.