Der Förderung der menschlichen Wahrnehmung ist die Autorin offenbar treu geblieben, ihre zwölf Texte sind bevölkert von sensiblen Menschen, die genau beobachten und sich dem „Zack-Zack“ unserer neoliberalen Welt auf verschiedenste Weise widersetzen. Sie sehnen sich nach Verbundenheit, Freiheit und Selbsterkenntnis, sie sind introvertiert, manchmal einsam, manchmal schlaflos, sie rauchen, trinken und kämpfen mehr oder weniger erfolgreich gegen die Schatten, die sich auf ihr Leben legen.
Shadow, das kraftvolle Coverbild des Bandes von René van de Vondervoort, gibt optisch die Stimmung vor, die viele Texte durchzieht – ein Mix aus Bedrohung und Faszination, Düsternis und Licht, Traum und Realität.
Kristina etwa, die Heldin aus Wieder dieselben Augen, verfängt sich an einem ruhigen Wochenende, das sie allein zu Hause verbringt, in Erinnerungen an die eigene Kindheit und Jugend: „Im Weichzeichner des spärlich beleuchteten Wandspiegels erkannte Kristina das Mädchen, die junge Frau, die sie einst gewesen war. Ihre Augen hatten noch denselben, wieder denselben Ausdruck“. (S. 11) Auslöser für ihr Eintauchen in die Vergangenheit ist eine Irritation. Zwei fremde Mädchen, noch Kinder, stehen plötzlich am Gartentor und blicken stumm auf die Erzählerin, später kehren sie in einem intensiven Traum wieder und wecken Erinnerungen an Helena, Kristinas beste Freundin aus Kindertagen, an die schmerzliche Entfremdung und Trennung im Erwachsenenalter.
Die Stimmung wechselt abrupt, als der Ehemann Georg von seinem Familientreffen nach Hause kommt, freundlich mit den neuen Nachbarmädchen plaudernd, die Kristina am Vortag mit einer fuchtelnden Bewegung verscheucht hat. Das Gelächter der Kinder klingt „hell wie ein Glockenspiel“ und Georgs Umarmung fühlt sich besser an als jede Beruhigungstablette (S. 12). Seine Heiterkeit und ihre Melancholie, seine Geselligkeit und ihre Zurückgezogenheit fügen sich an diesem Abend zu einem friedlichen, vielleicht sogar glücklichen Ganzen. Es könnte jedoch auch ganz anders sein, das ist überdeutlich spürbar.
Auch die beiden Geschwister in der folgenden Erzählung sind bei all ihrer Verschiedenheit eng miteinander verbunden, zwei junge Entwurzelte aus einem Dorf, die auf tragische Weise ihre Eltern verloren haben und nun versuchen, in der Anonymität der Stadt ein neues, freieres Leben zu beginnen.
Ganz andere Probleme hat der gutsituierte Manuel aus Märzsonne: Er ist am Ende seines Wirtschafts-Studiums angelangt und soll in die Immobilienfirma des Vaters einsteigen, doch er möchte am liebsten die Zeit anhalten. Hier der goldene Käfig, dort der Traum vom Reisen und Schreiben – soll er sich fügen oder den Bruch mit der Familie wagen? Zum Glück gibt es Shirin, seine kluge Freundin, die seinem Mut auf die Sprünge hilft.
Nicht immer finden die Figuren einen guten Weg und manche Situation ist durchaus verstörend. Etwa jene der Frau, die sich vom Vater ihres Kindes trennt und diesem im Streit auch gleich die kleine Tochter überlässt, sie trotzig im gefrierenden Regen auf die Straße stellt, damit er sie abholt. Am Ende, sie ist alleine und leicht betrunken, kommen die tiefer liegenden Gefühle zurück – Enttäuschung, Verlassenheit, Schuld, Zweifel. Das Kind in ihr lautet der sprechende Titel dieses sehr kurzen, dichten Textes.
In der Titel-Erzählung Separation steht der Alkohol trennend zwischen dem namenlosen Helden, einem Lagerarbeiter, und seiner Freundin Alice. In der Traumszene zu Beginn scheint bereits alles verloren, doch der folgende Tag beginnt, wie zeitversetzt, mit ihrem Anruf und einer Einladung ins Kino. Er sagt erleichtert zu, doch der Flachmann und seine Angst sind mit dabei, als er sich auf den Weg macht, Ankunft ungewiss.
Die Geschichte Das Unvermögen führt in ein Therapiezentrum für psychisch Kranke, ein namenloses „Wir“ versucht sich einzufinden in die surreal anmutende Betriebsamkeit der Klinik, die weit mehr Bedrängnis verursacht als Heilung verspricht. Ist es Unvermögen oder schlicht die Rettung, diesen Ort fluchtartig zu verlassen? „Die Klinik steht wie ein Klotz in der Landschaft, die aufatmen würde, wenn es diesen Bau nicht gäbe. So wie der für die Parkplätze zubetonierte Boden, auf dem wir uns nun zwischen verlassenen Autos befinden.“ Statt weiterer Beruhigungstabletten ein Blick in den Himmel: „Wir betrachten die Vögel, die sich bewegen, wie sie wollen, die Vögel, die uns mitnehmen zum Blau des Himmels.“ (S. 48)
Irritationen und Brüche kennzeichnen auch alle weiteren Texte in diesem Band. Die meist personale Erzählperspektive versetzt uns unvermittelt in die jeweilige Gefühls- und Gedankenwelt der tragikomischen Figuren und übt eine starke suggestive Wirkung aus, nicht zuletzt deshalb, weil manche Wahrnehmungen getrübt, manche ErzählerInnen unzuverlässig erscheinen, weil man auch als Leser:in nicht auf festem Boden steht und vieles erst deuten muss.
Die Sprache bleibt in allen Erzählungen konstant, sie ist schlicht und präzise, passend zur Skizzenhaftigkeit der Texte, die sich erst schnell lesen, dann aber Zeit einfordern zum Nachdenken.
Manche Momentaufnahmen aktivieren gerade durch ihre Knappheit die Fantasie, in anderen gelangt man zu schnell ans (offene) Ende einer Geschichte, deren Figuren man erst besser kennenlernen müsste, um sie präsent zu behalten.
Sabine Schuster, Studium der Germanistik und Publizistik an der Universität Wien (Abschluss 1992), Tätigkeit für die schule für dichtung in Wien, die IG Autorinnen Autoren und den Folio Verlag, ab 1993 im Team des Literaturhaus Wien, von 2001 bis 2023 Redakteurin des Online-Buchmagazins.