Auf solche Weise hat Inge Merkel ihr „jüngstes“ Buch rund um den narrativen Kern des legendären Besuchs der Königin von Saba bei König Salomo strukturiert. Besonders viel ist ihr nämlich – über die knappe biblische Fassung der Begebenheit vor ca. 3000 Jahren hinaus – leider nicht eingefallen, um die Geschichte tatsächlich mit „Fleisch und Bein“ (S. 31) auszustatten. Stattdessen werden die beiden Protagonisten in endlose Palaver verwickelt, über Gott und die Welt, wie es in solchen Fällen heißt, vorgeblich „formlocker“ (S. 31). Doch der ganze „Plapperunfug“ höfischer Etikette ist, entgegen der Salomo in den Mund gelegten Behauptung, keineswegs einfach „vom Tisch gewischt“ (S. 33). Während die Überlieferung kurz und bündig festhält, dass die Königin von Saba nach Jerusalem kam, „bei Salomo ein[trat] und mit ihm über alles [redete], was sie sich vorgenommen hatte“, und er ihr „Antwort auf alle Fragen [gab]“, weil „es nichts [gab], was dem König verborgen war und was er ihr nicht hätte sagen können“ (Einheitsübersetzung, 1. Könige 10:2,3), projiziert die Autorin in das Herrscherpaar einen heftigen Ausbruch von Altersgeschwätzigkeit, ohne dass nähere Umstände ihrer Begegnung so plastisch ausgeschmückt werden, wie man es von einem historischen Roman erwartet. Nirgends wird das deutlicher als in der Szene, in der es darum geht, ob die Königin und der König ungeachtet ihrer Betagtheit nun miteinander schlafen sollen oder nicht. Im Leser ist alle Spannung längst zerredet, als es endlich zum wohl unvermeidlichen Beischlaf kommt.
Dafür bleibt die arabische Königin weiterhin namenlos, und unversehens wird – trotz ihrer wortreich in Szene gesetzten Eloquenz, trotz des von Salomo gemutmaßten Widerspruchs „zwischen Verstandesklarheit und Gefühlsdrang“, mit dem „diese Frau zu kämpfen haben [muß]“ (S. 26) – die Jahrtausende währende kulturelle Ignoranz gegenüber einer eigenständigen weiblichen Identität auf verquere Weise prolongiert. Hier wäre es auf mehr Sensibilität im Detail angekommen und nicht nur beispielsweise in Bezug auf die in mythenkritischen Texten dieser Art sattsam bekannten Bemühungen, aus Machthabern der Vorzeit diskussionsfreudige Repräsentanten einer modernistisch anmutenden, aufgeklärt selbstkritisch und selbstironisch gefärbten Denkweise zu machen, nach dem Motto: „[…] ‚Wir beide haben, glaube ich [= Salomo], im Länderkreis einen guten Ruf als Regenten, obwohl wir uns nicht der üblichen Methoden des Herrschens bedienen. Ihr nicht und ich nicht. Wir haben uns nicht der Königsgewalt bedient, damit unsere Untertanen uns gehorchen; Gewalt züchtet Gegengewalt, Aufstand oder stumme Verweigerung. Auf vernünftige Überlegung spricht das Volk nicht an […] Wir haben beide weder auf Zwang noch auf Einsicht gesetzt, sondern …‘
‚Sprecht es nur aus, auf Nasführung der Leute. […]'“ (S. 69f.)
Hingegen scheint das Problem, in welcher Sprache sich die Araberin und der Jude überhaupt unterhalten haben, analog zur Bibel, die sich als Wort Gottes freilich leichter über solche Spitzfindigkeiten hinwegsetzt, gar nicht zu existieren. Es wird von Merkel jedenfalls stillschweigend in quasi unfreiwillig ’salomonischer Manier‘ gelöst: Der Lektüre des Romans nach zu schließen, muss es sich um Deutsch gehandelt haben, wenn auch um ein altertümelnd verfremdetes Deutsch im Stile von: „Ihr wißt gar nicht, wie gut es mir tut, daß ihr über meine schriftstellerischen Ausartungen so wohlwollend, ja direkt schmeichelhaft urteilt, daß Ihr diesen Windeiern noch einen höheren Sinn zugesteht. Es wiegt das Kritteln und Zanken meiner welken Tugendrichter und Buchgelehrten auf. Seid bedankt dafür.“ (S. 36)
Obwohl viele Passagen wie eine schlechte Übersetzung klingen, verflüchtigt sich der Eindruck mangelnder Authentizität des Ausdrucks bis zuletzt nicht. Hauptverantwortlich dafür ist vor allem, dass sowohl die Konversationen als auch der Erzählerbericht in ihrer Umständlichkeit wie aus einem Guss gemacht sind, ohne individualisierenden Zuschnitt der literarischen Gestaltung. Einzelne Metaphern und ihre Derivationen (z.B. „Rumpelkammern der Seele“, vgl. S. 70, 71, 101, 106…) werden dementsprechend für so gelungen gehalten, dass sie immer wieder zum Einsatz kommen. Ein paar Lektoratsfehler (z.B. „[…] verblichene Fetzen […] hing“) vervollständigen da nur das Gesamtbild, vermögen es jedoch nicht zu revidieren.