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#Prosa

Sorgt, dass sie nicht zu zeitig mich erwecken

Daniel Kehlmann

// Rezension von Arno Rußegger

Für Daniel Kehlmann bieten sich sehr oft Gelegenheiten – bei Preisverleihungen oder ähnlichen Anlässen –, sich und sein eigenes Tun als vielseitiger Literat in Auseinandersetzung mit anderen Autor:innen zu prüfen, abzuwägen und weiterzuentwickeln. Die essayistischen Schriften, die dabei entstehen und von denen jetzt eine Auswahl unter dem Titel Sorgt, dass sie nicht zu zeitig mich erwecken erschienen ist, sind keine Nebenprodukte, sondern zentrale Elemente seines künstlerischen Selbstverständnisses.

Daniel Kehlmann, im Vorjahr mit dem Ludwig-Börne-Preis für Essay und Kritik ausgezeichnet, ist nicht nur ein in den verschiedensten, der zeitgenössischen Literatur offenstehenden Medien und Formaten bewanderter und erfolgreich tätiger Autor, vom Theater bis zum Film, vom Hörbuch bis zum Feuilleton in Tageszeitungen. Regelmäßig pflegt er innezuhalten, um sein eigenes Tun in Auseinandersetzung mit anderen Kunstschaffenden zu prüfen, abzuwägen und weiterzuentwickeln. Den äußeren Anlass stellen meist Preisverleihungen oder vergleichbare Feierlichkeiten dar. Für Kehlmann handelt sich bei den essayistischen Schriften, die dabei entstehen, nicht einfach um Gebrauchstexte für einen konkreten Zweck, nicht um notgedrungene Nebenprodukte seiner künstlerischen Arbeit, sondern offensichtlich um zentrale Elemente seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Er ist eben nicht nur ein Erzähler von internationalem Rang.

So geht es im ersten Teil des Buches um Friedrich Schiller (auf den durch das Zitat aus Wallenstein der Buchtitel zurückzuführen ist), Gottfried Wilhelm Leibnitz, Friedrich Hölderlin, Karl Kraus, Ludwig Börne, Salman Rushdie oder natürlich Jonathan Franzen, um nur einige aufzulisten, und man nimmt – Seite für Seite – Wissenswertes und Aufschlussreiches mit. Kehlmann kann auf eine phänomenal extensive, gleichwohl intensive Lektüre zurückgreifen, Schreiben und Lesen sind für ihn im literarischen Kreativprozess untrennbar miteinander verbunden. Ähnlich umfassend gestaltet sich seine Liebe zum Kino und zu Filmen, der er sich am Ende in versierten Kommentaren zuwendet, um im Für und Wider die Filmkunst von Lars von Trier, Michael Haneke oder Arnold Schwarzenegger in ihrer Facettenhaftigkeit zu würdigen.

Die Klarheit, Nachvollziehbarkeit und Anschaulichkeit von Kehlmanns Urteilskraft ist verblüffend (um einen seiner Lieblingsbegriffen auf ihn selbst anzuwenden), gerne greift er sogar – ungeachtet ironischer Untertöne – zu Höchstbewertungen, um bestimmte Ansichten zu verdeutlichen: „Manchmal sind Superlative angebracht, manchmal ist der Wunsch, sie zu vermeiden, nur ein Symptom für Geiz und Schäbigkeit“ heißt es diesbezüglich auf S. 193. Doch davon ist Kehlmann freilich weit entfernt, zu ausgeprägt ist seine grundsätzliche Achtung vor den „Freunden“ (im Sinne Jonathan Franzens, siehe S. 199), die quer durch die Kulturgeschichte zu finden sind.

Wenn Kehlmann sich selbst als Kritiker hervortut, oft bloß glossenartig und wie beiläufig im Zuge von Nebenbemerkungen und kleinen Exkursen (über Adorno, Voltaire, Döblin, Kubrick, Vermeer und etliche andere), dann ist eine Vorentscheidung über den Rang der behandelten Werke bereits gefallen. Auf Ernst Lothar, zum Beispiel, geht „eine der merkwürdigsten Schilderungen der österreichischen Memoirenliteratur“ (S. 152) zurück, Franz Werfel hat „die beste Seelenchronik des Landes Österreich unter dem Schatten des […] Nationalsozialismus“ (S. 134) geschrieben, Karl Kraus ist „der größte Satiriker der neueren Literaturgeschichte“ (S. 128), Voltaire aber muss man als „den größten Satiriker, nein, nicht seiner Zeit, sondern aller Zeiten“ (S. 84) ansehen.

Kaum vorstellbar, dass da jemals ein Verriss herauskommen könnte. Das Idealbild räsonierender Redlichkeit sieht Kehlmann in seinem amerikanischen Kollegen Jonathan Franzen verkörpert, dessen Rezension eines Romans von William Gaddis zu folgender, symptomatischer Schlussfolgerung geführt hat: „Das Packende […] war aber, dass Franzen Gaddis nicht einfach in Bausch und Bogen ablehnte, sondern dass er viel Verehrungsvolles über ihn zu sagen wusste, dass er sich tief und genau mit ihm beschäftigt hatte und aus dieser Kennerschaft heraus plausibel machte.“ (S. 195)

Der Umstand, dass durch die vorliegende Anthologie der unmittelbare, konkrete Zusammenhang der einzelnen Beiträge mit bestimmten Veranstaltungen, Ehrungen und Institutionen relativiert bzw. aufgelöst worden ist, lässt Gemeinsamkeiten, Berührungspunkte, Korrespondenzen zwischen ihnen hervortreten, die über eine Summe der vielen Details hinausgehen. Es ergibt sich ein größeres Ganzes, ein dichterischer Mehrwert, der nicht aufgeht in der additiven Aneinanderreihung seiner Teile. Das betrifft literarische Traditionslinien oder Gattungsfragen, die an mehreren Stellen des Buchs Thema sind, ebenso wie Fragmente einer Art Autobiographie, die Kehlmanns Lebenswelt und Karriere, seine Familie, Reisen und Bekanntschaften betreffen. Dies alles wird nicht einfach referiert; vielmehr erzählt hier jemand über seine Erfahrungen, Wahrnehmungen und Ideen, der neugierig, umtriebig und mit offenen Sinnen den Lauf der Geschichte betrachtet und in der Lage ist, sämtliche rhetorischen Register zu ziehen, um zu sagen, was er sagen möchte.

Autofiktionale Assoziationen und die Darstellung gesellschaftlicher, historischer und aktueller Rahmenbedingungen gehen, in Analogie zum Lesen und Schreiben, eine außergewöhnliche Symbiose ein, wobei es Kehlmann versteht, sich als überaus politischen Kopf in Szene zu setzen, freilich jenseits jeder parteipolitischen Festlegung: „Meine Vorbilder waren Beckett, Borges und Nabokov – Autoren, von denen man nie eine tagespolitische Meinung zu hören bekommen hätte.“ (S. 67)

Dennoch hält er sich weder zurück, Donald Trump offen anzuprangern (siehe Mein Leben mit dem Monster. Zum Amtsantritt Donald Trumps, S. 28-39), noch der ÖVP mitsamt dem damals amtierenden Bundeskanzler Sebastian Kurz wegen ihrer laxen Haltung gegenüber Rechtspopulisten wie einem „das parlamentarische System, den Rechtsstaat und die Pressefreiheit offen verachtenden Innenminister“ (S. 69) coram publico die Leviten zu lesen (S. 69: „Möchte die Österreichische Volkspartei wirklich weiterhin alles hinnehmen, was in ihrem Namen passiert?“).

Zur weiteren Illustration von polemischen Aussagen, die sozusagen geistige Demarkationslinien abstecken sollen, wäre einer seiner ehemaligen Wiener Universitätsprofessoren zu erwähnen, der mit dem frühen Genius des jugendlichen Studenten schlicht und einfach überfordert war. In der Funktion als der „präsidierende Germanist“ eines seinerzeit von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften groß aufgezogenen Projekts zur Erstellung eines Karl-Kraus-Wörterbuchs erscheint er rückblickend als „ein herrschsüchtiger Wirrkopf, und das Lexikon erwies sich schon während seiner Entstehung als unbrauchbar (ein Urteil, das die Kraus-Forschung später einhellig bestätigen sollte)“ (S. 124 f.).

Die Präzision, mit der Kehlmann vorgeht, führt fast zwangsläufig zu überaus witzigen (besser: gewitzten) Passagen (siehe S. 93). Immer wieder ist man geradezu hingerissen von der Eleganz der Wortwahl und syntaktischen Fügungen, die inspirierend wirken, auch wenn man nicht jedem Argument gleich folgen mag – während einen umgehend das Bedenken beschleicht, ob man in einer direkten Diskussion mit dem Poeta doctus wissensmäßig so ohne Weiteres mithalten oder gar dagegenhalten könnte. Das wird als sympathisch hingenommen oder eben gerade nicht und erinnert an Reaktionen auf Peter Handke: Was die einen fasziniert, ist identisch mit dem, was anderen furchtbar auf die Nerven geht. Für die jeweiligen Jurys und Kommissionen, Veranstalter und Kulturmanager hat sich die Entscheidung, Kehlmann zu erwählen, aber – so oder so – doppelt gelohnt. Denn sie haben über die Nominierung hinaus die damit verbundenen Vorträge und Referate als Surplus erhalten, durch und durch individuell und eigensinnig. Das ist in Zeiten der kommunikativen Oberflächlichkeit und automatisierten Informationsverarbeitung nicht hoch genug einzuschätzen.

Fazit: Kehlmann geht an mehreren Stellen auf die Herausforderungen ein, die Schriftstellerei mit sich bringt, in erster Linie auf die Schwierigkeiten, „Bilder und Ideen festzuhalten und auszudrücken“ (S. 16). Aber sogar auf einen zweiten Blick hin entdeckt man praktisch keine Hinweise darauf, dass auch einem wie ihm nichts einfach wie von allein aus der Hand geflossen ist, sondern sehr wohl Überarbeitungen und Korrekturvorgänge notwendig waren.

Am ehesten fällt just das Kapitel Kritisiert werden (S. 71-79) über Literaturkritik irgendwie aus dem sonstigen Qualitätsrahmen. Immerhin wird Helmut Qualtinger meiner Einschätzung nach etwas zu flapsig als „Komiker“ (S. 71) bezeichnet, und der rote Faden der dialektischen Gedankenführung scheint sich da und dort zu verheddern, sogar bis hin zur Redundanz identer Formulierungen, jeweils im Namen der Schriftsteller allgemein (S. 74: „versucht, das Buch nach seinen eigenen Maßstäben zu verstehen“). Allerdings stört das kaum, im Gegenteil, weil es indirekt den Respekt vor einem Schriftsteller untermauert, der – ungeachtet seiner Prominenz und Eloquenz – nicht umhinkommt, tatsächlich in jedem seiner Werke mit der Sprache um den besten und schönsten Ausdruck zu ringen.

Daher können wohl auch die Reden aufgrund ihrer inneren Komplexität nicht anders denn als Vorlesung zu Gehör gebracht werden, und das sicherlich nicht auswendig. Bleibt abschließend nur zu hoffen, mit dieser Buchbesprechung ein bisschen dazu beigetragen zu haben, dass es Daniel Kehlmann (nicht zuletzt anlässlich seines fünfzigsten Geburtstags!) „im Grunde gut[geht]“ (S. 74) und es trotz seiner Besorgnis („obgleich wir [Schriftsteller] eigentlich wissen, dass niemand mehr Rezensionen liest“, ebd.) womöglich doch Leute gibt, die gerade wegen des umfangreichen Magazins zu Neuerscheinungen die Literaturhaus-Wien-Website konsultieren.

Arno Rußegger, ao. Univ.-Prof. i.R., Studium der Germanistik und Anglistik, verbrachte seine wissenschaftliche Laufbahn zunächst am Robert-Musil-Institut für Literaturforschung / Kärntner Literaturarchiv, danach (ab 2009) am Institut für Germanistik der Universität Klagenfurt. Dissertation über Robert Musil, Habilitation (2004) zum Thema Selbstbezüglichkeiten in Literatur und Film. Forschungs-, Lehr- und Publikationstätigkeit mit folgenden Schwerpunkten: Österreichische Literatur seit 1900, intermediale Literatur, Filmanalyse, Kinder- und Jugendliteratur, angewandte Germanistik (Buchforschung, Literaturvermittlung, Literaturbetrieb). Buchpublikationen: als Hrsg. [gemeinsam mit Ulrike Krieg-Holz]: Österreichbilder. Mediale Konstruktionen aus Eigen- und Fremdperspektive. Marburg 2022; als Hrsg. [gemeinsam mit Gottfried Schlemmer und Georg Seeßlen]: Hans Moser. Wiener Weltschmerzkomiker. Wien 2020; als Hrsg. [gemeinsam mit Andreas Peterjan]: Neo-Phantastik. Wien 2018 (= libri liberorum, Heft 49; als Hrsg. [gemeinsam mit Angela Fabris und Jörg Helbig]: Horror-Kultfilme. Marburg 2017.

Daniel Kehlmann Sorgt, dass sie nicht zu zeitig mich erwecken
Essays und Reden.
Hamburg: Rowohlt Verlag, 2024.
304 Seiten, gebunden.
ISBN: 978-3-498-00266-4.

Verlagsseite mit Informationen zu Buch und Autor sowie einer Leseprobe

 

Rezension vom 23.01.2025

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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