Mit bestechender Gründlichkeit fasst der Autor Herwig Gottwald unterschiedliche Spurensuchen verschiedener Disziplinen zusammen und prüft ihre Brauchbarkeit für die Analyse des Mythischen in der Literatur. Nichts könnte für diese Recherche unpassender sein als die Schneelandschaft auf dem Cover, durch die sich einsame Spuren ziehen. Das Forschungsfeld ist intensiv beackert und Gottwalds Untersuchung um das Einbeziehen unterschiedlichster Ansätze bemüht: Anthropologische, philosophische, soziologische Arbeiten zum Mythos zieht er ebenso heran wie die heterogenen literaturwissenschaftlichen Anstrengungen des Mythischen habhaft zu werden oder Theorien der Kognitionspsychologie.
Anliegen und Inkohärenzen dieser Mythostheorien reflektiert der Autor in einem umfangreichen ersten Teil, der sich jenseits der typologischen Fragestellung auch als spannende Kulturgeschichte der modernen Dichtung und Wissenschaft lesen lässt. Er führt die Mythoseuphorie in der Zwischenkriegszeit vor oder zeigt, wie einseitig die Auseinandersetzungen besonders nach dem II. Weltkrieg werden konnten, indem der Mythos zur Projektionsfläche für Zivilisationskritik oder auch gleich zur Faschismus-Analyse herangezogen wurde. Bei den modernen Dichtungstheorien hinwiederum erörtert Gottwald, wie die Poesie vom Konflikt zwischen dem konstatierten Ende des Mythischen und der gleichzeitigen Sehnsucht danach zu profitieren verstand: Literatur als „Gefäß des Mythos“ wurde samt den dazugehörigen Poeten gewissermaßen geadelt und gleich selbst „mythisiert“. Insbesondere für die letzten Jahrzehnte belegt Herwig Gottwald, wie die verbreitete Wissenschaftskritik zu einer Renaissance des Mythos führte, die speziell dessen ästhetischer Dimension gewidmet ist. Dabei riskieren ahistorische Methoden wie jene Roland Barthes‘ eine trivialisierende Verwendung, während Defizite bei den Definitionskriterien oder die unreflektierte Entnahme aus dem philosophischen Theorientopf die Sicht auf den Mythos manchmal mehr verstellt, statt sie zu erhellen. Dementsprechend kritisch äußert sich Gottwald zur Wissenschaftsrezeption moderner, respektive postmoderner Theorien, die man vielerorts unreflektiert übernimmt. Als eine der Folgen macht der Autor die Begriffsverwirrung aus – diverseste themenspezifische Bezeichnungen wie mythisch, archaisch oder numinos wären mittlerweile „kommunikativ kaputt“.
Demgegenüber setzt Gottwald auf differenzierende und nachprüfbare Kriterien und trennt klar zwischen Mythos (als Stoff), Mythisierung (als irrationales Alltagsphänomen) und mythischem Denken (als Struktur), wobei sein Interesse vor allem letzterem gilt. Dabei fokussiert Gottwald auf eine der Hauptkontroversen der Mythostheorien, in der die eine Richtung auf einem Entwicklungsschema vom Mythos zum Logos beruht, während die andere Gruppe von der Konstanz und mitunter auch der Höherwertigkeit des mythischen Denkens ausgeht. Beide Entscheidungen befriedigen nicht, da die einen die Wiederentdeckung des Mythischen nicht zu erklären vermögen, während die anderen die Errungenschaften der Moderne verleugnen müssen.
Aus diesem Dilemma findet Gottwald einen nicht uninteressanten Ausweg. Mittels Piagets Stadienmodell versucht er sowohl das rudimentäre Überleben als auch das zeitweilige Verschwinden des mythischen Denkens, dessen latentes, inhomogenes Vorhandensein zu erklären und fordert diesbezüglich einen Paradigmenwechsel der Mythosforschung ein. Der kognitionspsychologische Ansatz, bisher in diesem Zusammenhang kaum verfolgt, verspricht in der Tat eine Wende, wenngleich der Rückgriff auf Vokabeln wie „primitiv“ sowie der inhärente Entwicklungsgedanke, der implizit zwischen ersten und letzten Stadien hierarchisiert, aufgrund der Sensibilisierung durch kulturanthropologische Forschung auf den ersten Blick irritiert. Gottwald vermag jedoch diese Bedenken zu zerstreuen, indem er auf diese Kritik eingeht und die Prekarietät archaischer, kindheitlicher Bewusstseinsstufen demonstriert sowie deren Attraktivität in manchen Nischen zu erklären versteht. Außerdem gelingt es ihm damit markante Vernachlässigungen der Mythosforschung anzugehen, die sich vor allem auf die hellenozentristische Perspektivik sowie die Konzentration auf hohe, „bereinigte“ Mythen zurückführen lassen.
Umsomehr fokussiert Gottwald im zweiten Teil seines Buches, das die Anwendbarkeit der ausgewerteten Theorien anhand von Einzelanalysen prüft, auf Elementen der sogenannten „niederen Mythologie“, auf Bluttausch oder Werwölfe, und führt das Überleben des Numinösen und Hässlichen in mythischen Strukturen vor. Für seine Fallstudien zieht der Autor ausgewählte Mythostheorien heran und erforscht mit Bachtin Chronotopoi, mit Martinez die paradoxe Zweideutigkeit, differenziert anhand Blumenbergs Kategorien der Bedeutsamkeit und mit Lugowski Mythisches vom mythischen Analogon. Gottwalds Textanalysen überzeugen. Sie legen die Besonderheiten mythischer Strukturen bei Kafka ebenso offen wie bei Karl May oder dem Nibelungenlied und erhellen sowohl etwas vom Faszinosum des „Romanungeheuers“ Hans Henny Jahnns als auch einiges der Anziehungs- und Abstoßungskräfte, die vielen Texten Peter Handkes seit Mitte der 70er Jahre eigen sind. Gottwalds Analysen demonstrieren eindrucksvoll die „Karriere des Bösen“ sowie den Wandel der Kategorie der Plötzlichkeit, die für mythische Strukturen nach wie vor, aber anders als im Mittelalter, relevant geblieben sei. Er erforscht den Funktionswandel des Mythos in aufgeklärten Gesellschaften ebenso wie eine Palette moderner Bearbeitungen des Mythos, wodurch auch herkömmliche Kategorisierungen in Frage gestellt werden: Aus mythostheoretischer Betrachtung steht Thomas Mann „als erzählerischer Antipode“ Peter Handke gegenüber, der mit Kafka und Lebert „zusammenrückt“.
So gelingt es Gottwald die ausgewerteten Ansätze des ersten Teils erfolgreich zu erproben und ein bewährtes Instrumentarium für weitere Spurensuchen, für die Fortschreibung seiner „mythologischen Literaturgeschichte“ zur Verfügung zu stellen. Dass dem Autor hierfür ein wertvoller Beitrag gelungen ist, liegt nicht nur an seiner konzisen Erarbeitung methodischer Zugänge. Es ist auch auf seine offene, konstruktive Einbeziehung konträrer Deutungen zurückzuführen, die der Autor nie einfach abtut, sondern immer zu erklären sucht: egal ob es dabei um große Befunde geht – wie „den Verschleiß alter kultureller Muster“, der bei Nietzsche zur Avantgarde, für Eco jedoch zur Hochkonjunktur mythos-analoger Erzählstrategien in der Massenkultur führt, oder aber um werkbezogene Fragen wie die politische bzw. theologische Deutung der „Wolfshaut“ von Hans Lebert. Selbst dort, wo Wissenschaftler das Ende des Mythos in der Literatur konstatieren, müht sich der Autor mit der Klärung des Standpunktes ab und verweist auf Beispiele der Literatur, die sehr wohl ohne mythische Strukturen auskommen. Die Gegenbeweise – aus Naturwissenschaften, Psychologie, Literatur – erweisen sich jedoch als stärker. Und sie verführen regelrecht dazu, den Blick auf das Mythische in der Moderne zu richten und darauf einmal so ordentlich wie möglich scharf zu stellen.