#Prosa
#Debüt

Strom

Robert Prosser

// Rezension von Roland Steiner

Umherschweifen (Dérive) und Zweckentfremdung (Détournement) nannte die Situationistische Internationale ihre methodischen Grundsätze, ein umherschweifender Textproduzent ist auch Robert Prosser, dessen Buchdebüt hierfür ein beredtes Zeugnis ausstellt. Hier macht sich jemand mit vielfarbigen Spraydosen ans Werk, Wahrnehmungsflächen mit grellen Sinneseindrücken, luziden Beobachtungen und blitzartigen Erkenntnissen zu betexten und daraus ein Graffito seiner Psychogeographie zu schaffen.

Die Adern dieses Geflechts nehmen ihren Ursprung in der Kindheit in einem Tiroler Alpendorf („Bestiarium“) und den Erinnerungen an den geliebten Großvater, durchlaufen die Pubertät zwischen den im Augustgras der Provinz verrauchten Sexphantasien und dem „Freiheitskonzentrat“ der ersten Europareisen und mäandrieren schließlich durch eine Adoleszenz mit Anker in Wien und Tauen in China, Marokko und Syrien – eine Weltoffenheit ganz ohne altkluges Kosmopolitengehabe.

Doch zuerst einmal kehrt der Ich-Erzähler heim von einer solchen Reise, der leere Koffer hatte sich mit Sonderbarkeiten gefüllt, jetzt klettert er aus dem Schwebezustand „mitten hinein in Konstanten wie ein Kindheitszimmer“. Als Angehöriger der letzten Generation, deren Großeltern den Zweiten Weltkrieg noch erlebt haben, konfrontiert er sich mittels Fotos und Tagebüchern mit Kriegserzählungen und dem Sterben, spannt mit einer Winkler’schen Konnexlogik den Bogen von Trauerzügen im Tiroler Dorf zu den Prozessionen durch die Gangesebene und verbläst den Hauch der Vergänglichkeit erneut mit Reiseassoziationen.
Der Kindheitsglobus wird auch in den folgenden Kapiteln gedreht, die ewig höllische Provinz mit der schnell himmlischen Urbanität abgeglichen. Der 27-jährige Autor scheut sich nicht, das Leben schon jetzt als „Ansammlung kleiner Abschiede“ zu (be-)zeichnen, wohl deshalb tagtäglich die Intensität des Augenblicks (in der Natur wie auf Hip-Hop-Clubbings) heraufzubeschwören und hierin auch Gottfried Benn und Ilse Aichinger zu paraphrasieren, besser: sie einzupassen ins eigene Textgewitter. Zwischen „Dorfecho“ und „Weltmasse“, „Heimwehwut“ und Muezzinruf hat auch die Liebe ihren unsicheren Platz, gleichwohl sie in Andeutungen verbleibt oder sich im Pathos verfängt – die „nichtsnutzige Sprache zwischen deinen Beinen und Haaren“ wird beschworen, doch der Nullpunkt scheint erreicht.
Häufiger und intensiver sind die Schilderungen von Reisebekanntschaften, Jugendlieben und Clubbing-Erotik unter Überwachungskameras, ständig werden die Emotionen rasant hochgetrieben und schnell verbraucht, um im nächsten Absatz wieder der tiefen Ernsthaftigkeit des Ich-Erzählers zu weichen, der gegen das „Ennui des 21. Jahrhunderts“ anschreibt. Bereits als Zehnjähriger notiert er Detektivphantasien und führt Tagebuch, später wird ihm seine Mutter das ihrige anvertrauen. Voller Ambivalenz ist nicht nur diese Geste.

Linkspolitisch und von Bewusstsein ausdehnenden Substanzen bewegt, bereist der Erzähler Natur und Kulturen durchmessend die Kontinente, springt von den Wellenbrechern vor San Sebastian zum Souq von Damaskus, belächelt die Betrunkenen von Ulan Bator und entschwebt in Amsterdam dank getrockneter Pilze „in schenkelweich lachende Hysterie“. Die Pilgerzeremonielle am Ganges weiß er ebenso betörend zu schildern, die „Gesteinslaken“ der Taklamakan-Wüste verknüpft er mit der „Nabelschnur des Widerstands“ in Tibet. Er entflammt sich am Unrecht diktatorischer und Traditionen auslöschender Regime im Nahen Osten und Nordafrika genauso wie an der Gleichgültigkeit gegenüber chinesischen Brandopfern, reibt sich am Stumpfsinn seiner konsumistischen Altersgenossen in Wien wie an der mangelnden Erinnerungskultur im Dorf. All diese in einen Strom eingemengten Erlebnisse, Kritiken, literarisierten Reportagen und Phantasmagorien breitet der Autor in einer Interpunktionsregeln aushebelnden, flackernden Stakkatosprache aus. Prosser – als Poetryslammer „Shin Fynx“ ein rhythmischer Sprachbilderjongleur – ähnelt darin eher der Assoziationen collagierenden (Social) Beat- denn der Impressionen egalisierenden Popliteratur. Mit der Cut up -Technik begegnet er auch seiner Satzstruktur.

Strom ist ein dicht gewebter, elektrisierter Impressionsteppich, ein Logbuch des Umherschweifens, die (teils kursiv hervorgehobene) Zweckentfremdung fremdliterarischer wie medialer Partikel und geschickte Reorganisation bzw. Re-Implementierung in ein streng heutiges Globale Welt-Soziotop. Der Sogwirkung von Prossers ausufernder Prosa kann man nachgeben und hätte den schmalen „Strom“ allzu schnell durchschwommen, der Eindruck dann gliche dem Leeregefühl nach einer selbst involvierten Performance oder einem halluzinogenen Rave. Doch Prossers stilistisch bewegliche Körperlichkeitssprache kann gerade auch zu einer sehr bedächtigen Rezeption mit der „Weisheit einer Lupe“ zwingen, am Ende dieses Decodierens mit Lustgewinn steht man bewegt vor den „Gedankenbanlieus“ eines großen Talents. Die Autorenprämie des Kulturministeriums für ein besonders gelungenes belletristisches Debüt 2009 war erst der Beginn.

Robert Prosser Strom
Ausufernde Prosa.
Wien: Klever, 2009.
128 S.; brosch.
ISBN 978-3-902665-13-3.

Rezension vom 13.01.2010

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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