#Prosa

Stromabwärts

Peter Landerl

// Rezension von Simon Leitner

Wie soll ich sagen? Da ist viel Angst in meiner Welt.
Ich bin nie wirklich heimisch geworden dort, im Grunde sind mir die Stadt und ihre Lebensweisen fremd geblieben und ich fühle mich dort immer noch so, als wäre ich bloß auf Abruf.
Vielleicht sollte ich Schluss machen bevor es zu spät ist, wirklich zu spät. Heimfahren, wieder alles ändern, mein Leben umkrempeln, Neustart, wieder einmal. Eine Leere zu füllen. Hier ist das nichts. Ich spüre, dass ich älter werde. Die Geschwindigkeit des Alterns hat sich merklich erhöht. Die Anzahl der Falten nimmt zu, das Haar verändert sich, ich werde schneller müde, nehme kontinuierlich zu, die Haut wird schlaffer. Ich fühle mich einfach nicht mehr jung. Dabei bin ich erst dreißig. Ich meine, ich bin erst dreißig, das ist kein Alter, aber ich bin auch keine zwanzig mehr.
Den Satz „Das Leben läuft an mir vorbei“ könnte ich blind unterschreiben.

So oder so ähnlich könnte eine Typenbeschreibung der Charaktere in Stromabwärts lauten, destillierte man zu diesem Zweck bestimmte Passagen aus eben jenem neuen Erzählband von Peter Landerl. Zehn Erzählungen sind es an der Zahl, und sie alle berichten von den Problemen und Schwierigkeiten der Altersklasse der heute (knapp) Dreißigjährigen, die – und das zeigt jede einzelne Erzählung sehr deutlich – insbesondere durch dreierlei geprägt ist: Unsicherheit, Resignation und Angst. Dabei sind es vorwiegend die Furcht vor der ungewissen Zukunft samt dem Älter- und dem Elternwerden, die ominöse, jedweder Grundlage entbehrende, aber dennoch ständig sich aufdrängende Gewissheit, etwas, vielleicht sogar das Wichtig(st)e im Leben verpasst zu haben, und die Konfrontation mit (der eigenen) Sterblichkeit in Form von erstmalig auftretenden oder realisierten Gebrechen, auf die Landerls Figuren mit Lethargie und Ohnmacht respektive gar nicht reagieren – sie treiben nur noch durchs Leben, sind im besten Fall unzufrieden, können aber nicht die nötige Kraft und die sprichwörtliche letzte Konsequenz aufbringen, um ihre Situation zu ändern.

Davon zeugt schon die erste und kürzeste Erzählung Stromabwärts: Der Protagonist, offenbar seit kurzem ohne Arbeit und Verpflichtungen, verbringt die letzten Herbsttage damit, ziellos herumzuspazieren und in Gedanken auf der Donau Richtung „Jugoslawien“ (das andere Wien) zu schippern: Er stellt sich vor, ob es wohl möglich wäre, auf einem Frachter anzuheuern und dort, am Balkan, nochmal anzufangen. Doch bei diesen Gedankenexperimenten bleibt es auch – weswegen auch immer, er wagt den Schritt (auf das Schiffsdeck) nicht, denkt auch nicht länger darüber nach, stattdessen sieht er weiterhin erst dem Fließen der Donau und anschließend jenem des abendlichen Straßenverkehrs zu. Die Passivität des „Akteurs“ (es fällt an dieser Stelle schwer, den Begriff ohne Einschränkungen zu verwenden) schlägt sich auch in seiner Sprache nieder: Er hat seine Arbeit nicht verloren, sondern diese ist schlichtweg verloren, einfach abhanden gekommen, und auch sein Leben sei ihm lediglich zugestoßen, gerade so, als hätte er nicht das geringste damit zu tun – und folglich auch keine Möglichkeit, etwas daran zu ändern. Und irgendwie, so hat man den Eindruck, entspricht dies sogar der Wahrheit.

Mindestens genauso verloren ist auch die Protagonistin in „Plein soleil“, die während ihrer Ferien in Südfrankreich ihrer bisher „mit sinnlosen Einkäufen, Kaffeehaustreffen, Partys, mit sinnlosen Handytelefonaten und Theaterbesuchen“ vertrödelten Zeit nachtrauert und vor dem Spiegel erkennen muss, dass auch sie nicht vor körperlichem Verfall gefeit ist.

Der auf den ersten Blick äußerst selbstbewusst scheinende Ich-Erzähler in „Da und dort, nirgendwo, immer“ schlägt sich mit ganz anderen Problemen herum: nicht nur, dass er aufgrund seines gutbezahlten, aber ungemein stressigen und ihm verhassten Jobs fast jeden Tag in eine andere Stadt reisen und bei einem Halt in Zürich versnobte Jugendliche ertragen muss (und dabei gar nicht merkt, dass er sich in seinem Gebaren durch nichts von ihnen unterscheidet); er muss auch mit einem Vater, der die Homosexualität seines Sohnes nicht nur ignoriert, sondern ganz einfach negiert, und dem Verschwinden seines kurdischen Freundes klarkommen.

Die unterschiedlich langen oder vielmehr kurzen Erzählungen (zwischen zehn und zwanzig Seiten) haben – bis auf den Umstand selbstverständlich, dass sie alle Variationen ein und desselben Themas sind – nichts miteinander zu tun. Auf eine gewisse Art und Weise dennoch verbunden sind sie durch einige Motive, die in mehreren Geschichten auszumachen und in ihrer Form sehr vielfältig sind. Unter anderem gehören dazu die Sehnsucht nach fremden Ländern – vor allem nach dem Balkan, jenem so schwer ein- und abzugrenzenden Ort, aber relativ eindeutigen Topos – und die Flucht dorthin, im Glauben, ein Ortswechsel oder ständige Bewegung könne den Problemen im Leben entgegenwirken oder diese verschwinden lassen; die Diskrepanz oder gar Disparität zwischen Stadt und Land sowie zwischen Akademikern und Bauern oder Handwerkern als ständiger Streitpunkt, nicht nur in Familien; die Tatsache, bald eine Familie ernähren zu müssen und die Zweifel, dies auch nur ansatzweise bewältigen zu können; oder auch ganz einfach Fußballspiele, und – ganz im Sinne des Titels „Stromabwärts“ – Wasser in Gestalt von Flüssen oder Meeren.

Diese Themenstränge sind für den Verlauf der Geschichten allerdings nicht relevant und auch so unscheinbar, dass man sie nur als Zufälligkeiten wahrnimmt. Dadurch geht leider ein interessanter Aspekt verloren, der dem Buch gut getan hätte. Denn die Geschichten sind gut und routiniert geschrieben, gleichen sich aber (vor allem auf sprachlicher Ebene und was die Figuren betrifft) zum Teil sehr, alles fließt irgendwie dahin. Man wünscht sich, der Autor hätte schon erwähnte Motive stärker eingebaut, die Charaktere etwas schärfer und individueller gezeichnet, und dass auch Humor Eingang in die Erzählungen gefunden hätte.

Dass Landerl schreiben kann, steht außer Frage. Bei aller Kritik vermittelt Stromabwärts nämlich überaus anschaulich die alltäglichen Konflikte und Herausforderungen der bislang in der Literatur straflos vernachlässigten Generation der Dreißigjährigen und erstellt eine detaillierte und aktuelle Bestandsaufnahme. Außerdem sind die Erzählungen einzeln äußerst kurzweilig zu lesen, und gerade die mitunter sehr schön geratenen Landschaftsbeschreibungen zeigen, wozu Landerl imstande ist.

Angesichts dessen ist es schade, dass sich beim Lesen von Stromabwärts irgendwann dasselbe Gefühl einstellt, das einen ergreift, wenn man einen beliebigen Fluss oder Strom, sei es nun die Donau oder die Seine, die Morawa, die Save oder die Drina, beim unablässigen Dahinfließen betrachtet: Eine geraume Zeit lang ist es wirklich schön, doch irgendwann, früher oder später, könnte es langweilig werden.

Peter Landerl Stromabwärts
Erzählungen.
Innsbruck: Edition Laurin, 2010.
160 S.; geb
ISBN 978-3-902719-74-4.

Rezension vom 30.09.2010

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

Informiert
bleiben

Sie können 3 Newsletter abonnieren:

  • Literaturhaus Wien News
  • Literaturhaus Wien Veranstaltungsprogramm
  • Österreichische Exilbibliothek News

Bitte schicken Sie uns eine entsprechende Nachricht mit dem Betreff „Newsletter bestellen“. Für Abbestellungen bitte im Betreff „Newsletter abbestellen“ schreiben.