#Roman
#Debüt

That’s life in Dystopia

Johanna Grillmayer

// Rezension von Johanna Lenhart

Wir schreiben das Jahr 7 nach dem „Ereignis“ (S. 28): Sieben Jahre nach dem Ende der Welt, wie wir sie kennen, als im Juli 2019, oder auch im Juli 1 der neuen Zeitrechnung, die „Auslöschung“ (S. 117) über die Welt hereinbrach:

„Es gab keine Vorwarnung, keine Gerüchte über Social Media, nichts darüber war in den Nachrichten, denn es kam unvermittelt und sehr schnell. […] Das rätselhafte Ereignis begann um zehn nach sieben, noch vor der Festrede. Jola sah wie ihre Mutter und ihre Tanten umgerissen und niedergetrampelt wurden. […] Aber als sie sich noch einmal umdrehte, sah sie etwas, das selbst für einen Traum zu absurd gewesen wäre: Menschen im Zelt verschwanden, lösten sich in Luft auf. Sie waren in dem einen Moment noch da und im nächsten weg. Nichts von ihnen blieb übrig, nicht der kleinste Rückstand in der Luft oder auf dem Boden.“ (S. 28, 29)

 

Einige Menschen suchen in einem Weinkeller Zuflucht vor dem Unerklärlichen und überleben das Ereignis auf ebenso unerklärliche Weise. Unter ihnen Jola, aus deren Perspektive der Großteil der Geschichte erzählt wird, und eine Handvoll anderer Mittzwanziger, die sich schließlich, als es ungefährlich zu sein scheint, zusammentun, den Weinkeller verlassen und nach einigem Umherirren eine neue Bleibe finden. In einem verlassenen Hotel im ländlichen Österreich, dem Sonnenhof, quartieren sie sich ein und beginnen Überlebensstrategien zu entwerfen: Die Instandhaltung einer Photovoltaikanlage, unbeholfene Versuche in der Landwirtschaft und der Tierhaltung, Umgang mit Waffen. Mithilfe geschickter Sprünge zwischen verschiedenen Zeitebenen – zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit vor und nach dem Ereignis – und dem gelegentlichen Wechsel zur Perspektive des stillen, eigenbrötlerischen Jakob, wird die Neuordnung der Welt beschrieben.

Dass die Ursache der „Auslöschung“ im Debütroman von Johanna Grillmayer kaum eine Rolle spielt, ist kein Zufall, bildet sie doch nur die Kulisse für die eigentlichen Fragen: Was wäre, wenn wir von vorne anfangen müssten? Wie würden soziale Beziehungen ausverhandelt werden? Was gilt es zu erinnern? Was gibt man den Kindern von der alten Welt weiter, was nicht? Welche Ideen, Technologien, Kenntnisse, Werte sollen erhalten bleiben: Religion? Gerichte? Regierungen? Welche und wessen Regeln gelten noch? Klassische Fragen der Speculative Fiction, die laut Margaret Atwood, der kanadischen Großmeisterin des Genres, mit den latent vorhandenen, aber (noch) nicht realisierten Möglichkeiten einer Gesellschaft spielt. Was hier in erster Linie neu gedacht werden muss, sind nicht die technisch-materiellen Rahmenbedingungen – auf ihrem improvisierten Bauernhof ist die Gruppe trotz gelegentlicher Probleme recht gut eingerichtet –, sondern das Zusammenleben.

Kaum kommt die Gruppe nämlich etwas zur Ruhe, entstehen neue Beziehungen und es werden Kinder gezeugt. Eine zufällig zusammengewürfelte Familie, die nicht nach einem traditionellen Mutter-Vater-Kind-Schema funktioniert. Es entwickelt sich eine Art kollektive Elternschaft, in der alle für alle und alles verantwortlich sind – Kinder, Haushalt, Unterricht, Feldarbeit. Eine alternatives Familienkonzept, das viele Freiheiten mit sich bringt, einige der Überlebenden aber auch mit ihren in der alten Welt gelernten Besitzansprüchen und Kleinfamilienschemata konfrontiert. Romantische und sexuelle Beziehungen müssen im eingeschränkten Bewegungs- und Interaktionsradius der Postapokalypse neu konfiguriert werden. Vorbei ist es mit flüchtigen Bekanntschaften, in diesem Leben ist „jede einzelne Beziehung vielfach mit Bedeutung aufgeladen“ (S. 181). Zwischen den Bewohner:innen des Sonnenhofs, sechs Männern und zwei Frauen (und einer stetig wachsenden Kinderschar), entwickeln sich (heterosexuelle) polyamore Beziehungen, in denen die beiden Frauen im Sinne von Angebot und Nachfrage die Zügel in der Hand haben. „Es gibt euch Macht“ (S. 160), wirft einer der Männer den Frauen in einer Auseinandersetzung vor, was eine wutentbrannte Entgegnung provoziert „Macht, wie bitte?, fuhr Ali ihn an. Sie ballte die Fäuste. Hier sei keiner, der nicht körperlich stärker sei als sie und Jola – würde es ihnen einfallen, sie zu etwas zu zwingen hätten sie überhaupt keine Chance, sagte sie mit gepresster Stimme. Habt ihr daran schon einmal gedacht?“ (S. 160)

Sexual Politics also, um den Titel eines Klassikers der feministischen Literaturwissenschaft von Kate Millett von 1970 zu zitieren. Millett analysiert darin literarische Sexszenen in Werken von Autoren wie Henry Miller und Norman Mailer – inzwischen notorische Negativbeispiele. Ihre Schlussfolgerung, dass diese Szenen, die sich häufig um männliche Dominanz und Gewalt(-phantasien) und die Verfügung über eine Frau drehen, als Instrument zur Zementierung patriarchaler Macht in der Gesellschaft dienen, hat auch fünfzig Jahre später nichts an Aktualität eingebüßt.
In der niederösterreichischen Apokalypse können diese Verhältnisse in einer Welt, in der patriarchale Institutionen und Mechanismen ihre Bedeutung verloren haben, neu austariert werden, was in bemerkenswert gut geschriebenen, auf gegenseitigem Einverständnis und Lustgewinn basierenden Sexszenen auch konkret wird.

Die Frage, wie Sex, Fortpflanzung und soziale Macht zusammenspielen, ist ein Dauerbrenner in der dystopischen Literatur, von Margaret Atwoods MaddAddam-Trilogie und The Handmaid‘s Tale über Herland von Charlotte Perkins Gilman bis hin zu Marlen Haushofer, an deren einsiedlerische Protagonistin aus Die Wand man auch in der Schilderung der mühseligen Landwirtschaft erinnert wird. Neben literarischen Verwandtschaften stehen hier aber auch eine ganze Reihe populärer Fernsehproduktionen aus den letzten Jahren Pate: von The Walking Dead (Zombieapokalypse) über The Last of Us (tödliche Pilzepidemie) bis hin zu The Leftovers (plötzlich verschwindende Menschen). Sie alle haben gemeinsam, dass ihre Protagonist:innen vor dem Hintergrund einer katastrophischen Prämisse mit den sozialen Fallstricken einer nun reduzierten, regellosen Welt zurechtkommen müssen.

„But within every dystopia there’s a little utopia”, ein Zitat Margaret Atwoods, ist dem Roman treffenderweise als Motto vorangestellt. Denn trotz aller Verhandlungen, Herausforderungen und Schwierigkeiten birgt diese neue Welt doch die utopische Idee, dass die Ordnung des Zusammenlebens grundsätzlich neu organisiert werden kann. Sprachlich gewandt, irrt sich Grillmayer kaum je im Tonfall und der trockene Humor und die schnellen Wendungen verhindern, dass der Roman ins allzu Plakative abrutscht. Actionreiche Szenen wechseln sich mit kontemplativen Passagen zu Beziehungen, Landwirtschaft und Alltag ab und machen den Roman so zusammen mit den Zeitsprüngen, die sowohl die Vergangenheit nach und nach aufdecken als auch die Handlung in der Gegenwart vorantreiben, zu einem veritablen Pageturner. That’s life in Dystopia ist eine Auseinandersetzung mit einem Genre, die gekonnt mit dessen Versatzteilen jongliert und der es dabei – wie den besten ihrer Art – gelingt, zentrale Fragen unserer Zeit zu stellen.

Johanna Lenhart, Studium der Germanistik und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Wien. 2017-2022 OeAD-Lektorin an der Ain-Shams-Universität Kairo, Ägypten, und an der Masaryk-Universität Brno, Tschechische Republik; aktuell externe Lektorin an der Masaryk-Universität; Redaktionsmitglied der Fachzeitschrift medienimpulse. Beiträge zur Medienpädagogik. Forschungsschwerpunkte umfassen u. a. österreichische Literatur der Gegenwart, Comic sowie Genreliteratur und -film.

Johanna Grillmayer That’s life in Dystopia
Roman.
Salzburg, Wien: Verlag Müry Salzmann, 2023.
419 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag.
ISBN 978-3-99014-246-2.

Verlagsseite mit Informationen zu Autorin und Buch

Rezension vom 12.12.2023

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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