Diese beiden Eckdaten sind historisch gut begründet: 1814 fand der Wiener Kongress statt, der das internationale Interesse auf die Hauptstadt des Habsburgerreiches lenkte, 1914 erklärte Österreich-Ungarn Serbien den Krieg, was bekanntlich zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führte. Und dazwischen kamen Reisende aus Großbritannien und den USA nach Österreich – wobei Horst und Lois Jarka betonen, dass dieses Reiseziel weder im Vereinigten Königreich noch in den Vereinigten Staaten jemals so populär gewesen ist wie Frankreich und Italien. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass das Land im 19. Jahrhundert touristisch erschlossen wurde: 1827 erschien der erste Baedeker zu Österreich, 1836 nahm John Murray das Land in seine viel benutzte Reihe „Handbook for travellers“ auf. (Allerdings ist dabei immer nur die Rede von Deutsch-Österreich. In die slawischen und ungarischen Teile der Monarchie wagten sich nur wenige anglo-amerikanische Reisende vor.)
Wie die beiden Herausgeber in ihrer gut fundierten Einleitung zeigen, richtete sich das touristische Interesse während des 19. Jahrhunderts einerseits auf die kulturelle, architektonische und politische Bedeutung der Kaiserstadt Wien, andererseits auf die unberührte Natur, wobei den Alpen besondere Bedeutung zukam. Es ist schon in anderen kulturhistorischen Publikationen dargestellt worden, dass der Alpinismus eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts gewesen ist, und dass gerade britische Bergsteiger und Reisende einen großen Anteil an der touristischen Erschließung des Hochgebirges hatten. Die vorliegende Anthologie entdeckt in ihren beiden Kapiteln „Discoveries in the Eastern Alpes“ und „Mountains again“ also nichts ganz und gar Neues, bietet aber aufschlussreiches Material zur Illustration dieser bekannten Geschichte.
Historiker der Wahrnehmung werden z.B. ihr Vergnügen haben am Bericht des englischen Kunstkritikers und Alpinisten Sir William Martin Conway, der 1895 von einer Alpenvereinshütte zur anderen wanderte, und dabei auch einem Bergfotografen begegnete, der ihm seine Berufsgeheimnisse verriet: „It is useless taking a photograph of a mountain landscape under new snow. People won’t buy it. They want things as they are accustomed to see them, though to this there are exceptions. For instance, no one will buy a photograph of Salzburg without snow on the Untersberg, yet they want the trees in leaf though they never see snow there in summer. It is seldom one finds that view in the right condition to be photographed for the public taste. A few days from now there will be fine wheather, and I shall go up the Gross Venediger and take my photographs. There is no hurry. I can sit.“
Aber nicht nur Kulturwissenschaftler können in diesem Buch fündig werden, sondern auch politische Historiker. Es ist nicht verwunderlich, dass die meisten der demokratisch gesinnten Briten und Amerikaner ihre Vorbehalte gegen das autoritäre und immobile Habsburgerreich hatten. Einzig der prinzipienfeste Tory John Ruskin verteidigte 1851 die Ordnungsmacht Österreich gegen die seiner Meinung nach unausgegorenen und selbstverliebten Unabhängigkeitsbestrebungen Oberitaliens. Sonst überwiegen Skepsis und Kritik. Samuel Leghorne Clemens – besser bekannt unter seinem Künstlernamen Mark Twain – lebte und arbeitete zwischen 1897 und 1899 in Wien. Als aufmerksamer Zeitgenosse kommentierte er auch die k.u.k-Innenpolitik. Als etwa der Erlass des Ministerpräsidenten Badeni das Tschechische als zweite Amtssprache in Böhmen gelten ließ, kam es zu Tumulten und Schlägereien im Reichsrat. Mark Twain schrieb 1898 für „Harper’s Magazine“ einen langen Korrespondentenbericht über diese Krawalle. Sein Text, ein Meisterwerk der politischen Reportage, wurde in voller Länge in die Anthologie aufgenommen. Er zeigt Mark Twain als einen überzeugten Republikaner, der das rabaukenhafte Gebaren der Parlamentarier ebenso verurteilt wie den Einsatz der Polizei, der schließlich die Ordnung wieder herstellte. Beides zusammen erschien Mark Twain als Zeichen der Unfähigkeit zu demokratischem Verhalten. Interessant ist allerdings, dass derselbe Twain eine große Verehrung für Kaiser Franz Josef aufbrachte, und dass er der ermordeten Kaiserin Elisabeth einen mehr als devoten Nachruf widmete. Dies ist ebenfalls in dem Band nachzulesen, und beweist einmal mehr, dass gerade die bedeutenden Autoren von Widersprüchen nicht frei sind.
Anthologien wie diese pflegt man meist als „Fundgrube“ zu bezeichnen und auch als solche zu benutzen. Da es nicht die Aufgabe eines Rezensenten sein kann, das besprochene Buch in voller Länge nachzuerzählen, sei hier nur noch ein Aspekt aus der Menge der möglichen Gesichtspunkte herausgegriffen: Sehr zu Recht weisen die Herausgeber darauf hin, dass die zitierten Quellen nicht nur Auskünfte über Österreich enthalten, sondern auch über die Herkunftsländer der Reisenden. Wer in ein fremdes Land fährt, bringt seine Wert- und Vorurteile von zu Hause mit, was seine Wahrnehmungen notwendigerweise prägt. So kommt es, dass der Amerikaner Henry Wadsworth Longfellow, dessen romantisches Epos „The Song of Hiawatha“ 1855 die indianischen Ureinwohner Amerikas verherrlichte, auch in Österreich auf edle Wilde stieß. In seinem Roman „Hyperion, a Romance“ schickte Longefellow 1857 ein alter Ego namens Flemming auf eine Reise durch Europa. Dieser Flemming bewunderte die Eingeborenenfrauen des Salzkammergutes und war der Ansicht, dass sie wie „Indians in the frontier villages of America“ aussähen. Das wäre einem Reisenden aus Frankreich oder Deutschland gewiss nicht aufgefallen.
Damit ist genug gesagt, um zu einem begründeten Fazit zu gelangen: The Other’s Austria enthält bedenkenswerte Texte und Themen in Fülle und kann deshalb Lesern und Leserinnen mit unterschiedlichsten Interessen von großem Nutzen sein. Halbwegs solide Englischkenntnisse sind zur Lektüre der teils recht anspruchsvollen Texte allerdings vonnöten.