#Sachbuch

Thomas Bernhard - Traditionen und Trabanten

Joachim Hoell, Kai Luehrs-Kaiser (Hg.)

// Rezension von Alfred Pfabigan

Für Manche war der zehnte Todestag des Thomas Bernhard eine Enttäuschung: die Zahl der Gedenkartikel in der deutschen Presse hielt sich in Grenzen und auch der erwartete Aufführungsboom hat sich nicht ereignet. Ist Thomas Bernhard – ungeachtet des ungeheuren internationalen Erfolges zu Lebzeiten – für den „Kanon“ der Weltliteratur doch zu sehr vom „Austriacum“ geprägt? Ist nicht gerade das wichtigste Werk Bernhards, die „Auslöschung“, nicht nur in ihrer Problematik an österreichische Relationen gebunden, an denen in einigen Jahrzehnten kaum Interesse bestehen wird? Besteht also die Gefahr, dass Bernhard in die Liga der Regionalliteratur absteigt, oder aber zu einem Autor für Spezialisten wird?

„Wann wird ein Autor kanonisch“?, fragt Hartmut Eggert im Nachwort eines der beiden Protokollbände des Berliner Bernhardsymposiums 1998, von allen bisherigen derartigen Veranstaltungen wohl die größte. Eggert nennt als Antwort zwei eng miteinander verwobene Kriterien, die nicht auf die reale Verbreitung und die Reaktion von Publikum und Medien abstellen, sondern der Literaturgeschichtsschreibung die Verwaltung des Kanons überträgt: „Wenn der Text autonom wird und die Literaturhistoriker alle Hände voll zu tun haben, das Historische an einem Text wieder ins Bewusstsein zu bringen und ihn damit in Raum und Zeit genau zu platzieren.“ Nach diesen Kriterien ist Bernhard kanonisch. Die Rezeption war lange Zeit äußerst konformistisch strukturiert und hat sich an den raren Bernhardschen Selbstkommentaren orientiert und Bernhard als melancholischen Geschichtenzertrümmerer porträtiert, der die divergierenden Traditionen Montaignes, Pascals und Wittgensteins fortsetzt und zwischen Komödie und Tragödie nicht wirklich zu unterscheiden vermag.

Spätestens seit Bernhards Tod hat der Text diese von Eggert geforderte „Autonomie“ erreicht, Bernhards Selbstkommentare haben den Status von „Spielmaterial“ für die Interpreten erlangt und eine scheinbar unendlich Beliebigkeit hat sich in der Bernhard-Forschung breitgemacht. Die beiden Protokollbände des Berliner Kongresses belegen die Auseinandersetzung zwischen dieser Beliebigkeit und dem Versuch, Bernhard in „Raum und Zeit genau zu platzieren“. Wird dieser Versuch je in einer akzeptierten Eindeutigkeit enden – oder sind es nicht gerade die gelegentlich rätselhafte Unverbindlichkeit der Bernhardschen Texte, der Pluralismus der Zugänge, die sie ermöglichen, die Herausforderung ihm auf die Schliche zu kommen, die diesen Autor für seine Interpreten so anziehend macht?

„Vergleich“, das Registrieren von „Einflüssen“ und die Aufarbeitung der unendlichen Masse von intertextuellen Bezügen sind im Moment die zentralen Arbeitsmittel dieser Platzierung in Raum und Zeit. Das für das „Kalkwerk“ nicht nur Stifters „Kalkstein“ als Prätext fungiert, sondern auch „Der Untergang des Hauses Usher“ von Poe (so Clemens Ruthner) ist eine wertvolle Feststellung. In der „Komik der Grausamkeit“ sei Bernhard gleichzeitig der „Nachfolger und Antipode“ Doderers, so Kai Luehrs – Kaiser; Bernhard und Bachmann repräsentieren zwei Typen der Auseinandersetzung mit Österreich, so Joachim Hoell; die Differenz Bernhard – Jelinek erkläre sich aus der zwischen Melancholie und Sadismus: „Der Melancholiker ist ein Mensch der getrieben ist von Schuldgefühlen und Hass. Daraus ergibt sich das Bild des schuldigen und feindseligen Menschen.“ Hinter der „sadistischen Position“ der Elfriede Jelinek verberge sich „das Bild des ohnmächtigen Menschen.“ – so Doris Paschiller. Alle diese Erklärungsversuche bleiben letztlich im impressionistischen, sie enthalten ohne Zweifel wertvolle Assoziationen, die aber keine konsequente Anwendung auf das Gesamtwerk zulassen.

Ein großes Thema der Berliner Vorträge war die Fixierung der Bedeutung der zahlreichen Anspielungen, die sich in den Lektüren der Bernhardschen Figuren verbergen. Hat sich schon jemand die Mühe gemacht, John Donne, eine der Lektüren des selbstmörderischen Bruders in „Amras“, tatsächlich zu lesen, wie das Ulrich Kinzel vorexerziert? Ist der Umgang mit der Krankheit ein stärkeres Band zwischen Pascal und Bernhard als gewisse inhaltliche Übereinstimmungen, wie Walter Wagner vorführt? Geht der Konflikt „Edgar oder Ekdal“, mit dem die Gäste der Auersbergschen Abendgesellschaft zunächst einmal ihre Ignoranz der skandinavischen Literatur gegenüber beweisen, bis in die Tiefenstruktur der Erzählung, wie Gregor Hens zu zeigen versucht?

Paola Bozzi wiederholt am Beispiel von Charles Peguy einen Gemeinplatz der Bernhardforschung: dass intensive intertextuelle Bezugnahmen ein Produktionsmoment der Bernhardschen Texte darstellen. Die Zahl dieser Bezugnahmen ist gigantisch – Manfred Mittermayer nennt für „Auslöschung“ 49 Autoren und 22 Titel. Der Stellenwert dieser Bezugnahmen ist allerdings fraglich, Mittermayer, dem das Kunststück gelingt, eine überzeugende Deutung jener Bücher zu bieten, die Murau seinem Schüler Gambetti als Lektüre aufträgt, zitiert Adrian Stevens‘ Hinweis, dass Murau – und alle die anderen Bernhardschen Leser – die angeführten Texte „engagiert aber unmethodisch … im Lichte ihrer Privatinteressen“ lesen würden. Nehmen wir diesen Satz ernst, dann ist der heuristische Wert der intertextuellen Bezüge für das intellektuelle Porträt Bernhards weniger aussagekräftig, als bisher angenommen. Mittermayer weist darauf hin, dass schon Montaigne – dieser Heros der Bernhard-Welt – die von ihm zitierten Texte seinen Eigeninteresse entsprechend verändert, ja sogar sinnverkehrt habe.

Dieses spielerische an Bernhard ist eine offenkundige Provokation für die Literaturwissenschaft. Sie wünscht sich einen quasi dialogischen Bernhard, einen fleißigen Leser und Hörer, der bewusst und präzise auf andere Kunstwerke reagiert. Aber hat Bernhard wirklich soviel Anteil an Peter Handke genommen, dass die Passagen über die Toiletten im Wiener Musikvereinssaal als Antwort auf eine entsprechende Stelle in Peter Handkes „Lehre der Sainte Victoire“ reagiert, wie Bettina Bannasch meint; hat er wirklich in „Verstörung“ und dem „Untergeher“ konsequent Brahmsche und Bachsche Kompositionsprinzipien angewandt, wie Gudrun Kuhn und Liesbeth Voerknecht erläutern – oder ist der vermittelden Feststellung Pia Jankes vom sängerischen Gestus der Bernhardschen Schreibweise der Vorzug zu geben?

Soweit also die Literaturwissenschaft. Doch über die Frage einer Kanonisierung entscheidet auch das Publikum – und hier wissen wir noch sehr wenig: die internationale Bernhard-Gemeinde ist sozial und bildungsmäßig äußerst heterogen. Was lesen die Leute, wenn sie Bernhard lesen?

Joachim Hoell, Kai Luehrs-Kaiser (Hg.) Thomas Bernhard – Traditionen und Trabanten
Porträt.
Würzburg: Königshausen & Neumann, 1999.
232 S.; brosch.
ISBN 3-8260-1695-5.

Rezension vom 18.12.2000

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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