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Thomas Bernhard: Was ist das für ein Narr?

Gitta Honegger

// Rezension von Alfred Pfabigan

Über keinen zeitgenössischen österreichischen Autor wird soviel geschrieben wie über Thomas Bernhard, doch das überbordende Interesse an seinem offensichtlich unendlich viele divergierende Interpretationen zulassenden Werk läuft keineswegs parallel zu einem solchen an der Biographie seines Verfassers.

Gewiss, es gibt neben zahlreichen kleineren Versuchen und der minutiösen, doch leider irgendwann in den sechziger Jahren abreißenden Chronologie des Louis Huguet und der Pionierarbeit Hans Höllers vor allem in der letzten Zeit mehrere Gedenkausstellungen und damit zusammenhängende Kataloge und es gibt umfangreiche Sammlungen von Interviews. Doch irgendwie stehen alle diese Publikationen sehr stark unter dem Einfluss des von Bernhard geschaffen Selbstbildes und sind in wesentlichen Bereichen lückenhaft. Auf die „große Bernhard-Biographie“ werden wir wohl noch längere Zeit warten müssen.

Auch Gitta Honegger, Professorin an der Arizona State University, hat diese „große“ Biographie nicht geschrieben. Als Übersetzerin zahlreicher Theaterstücke ist Honegger eine wichtige Figur der amerikanischen Bernhard-Rezeption, sie kennt die zentralen Figuren aus Bernhards persönlichem Umfeld von den Geschwistern über die in „Holzfällen“ vernichtend kritisierten Jugendfreunde bis zum „Realitätenvermittler“ Hennetmaier. Dennoch ist es letztlich ein „Blick von außen“, den sie auf Bernhard richtet – so hat sie sich der vorhandenen Bernhard-Literatur gegenüber weitgehend kompilatorisch verhalten, sie aber durch eigene Interviews ergänzt und vor allem einen eigenständigen Ansatz zur Deutung von Leben und Werk entwickelt. Und da ist ihr etwas Bemerkenswertes gelungen: sie konstruiert eine Einheit von Leben und Werk, die in gewissen Bereichen nachvollziehbarer ist als andere Bernhard – Deutungen.

Die amerikanische Professorin ist in ihren wenigen Interviews ihren Gesprächspartnern aus dem Kreis um Bernhard offensichtlich näher gekommen als ihre VorgängerInnen und hat es verstanden, in Bereichen, wo bisher ein dunkles Geraune herrschte, auf einen zitierbaren Punkt zu kommen. So lassen beispielsweise nicht nur einige leicht verschlüsselte Bemerkungen in „Holzfällen“ darauf schließen, dass es in Bernhards Triebleben eine starke homosexuelle Komponente gab. Dennoch gab es um diese Frage bisher ein Tabu – ein unverständliches übrigens, denn dass die Frage ihrer mehr oder minder starken homosexuellen Orientierung auch etwas mit der verfassten Literatur zu tun hat, ist in den Fällen Thomas und Klaus Mann, Jean Genet oder Henri de Montherlant durchaus akzeptiert. Wenn man akzeptiert, dass die Auseinandersetzung über die eher bedrohlichen Seiten der Homosexualität ein Thema der Bernhardschen Prosa war, dann ändert sich beispielsweise der literarische Status von „Holzfällen“ grundlegend. Bei Honegger kann man nun – frei übersetzter Originalton der Jeannie Ebner – lesen, Bernhard sei „mehr Homo als mit Frauen gewesen“. „Aber wenn sie älter waren und ihm ein wenig helfen konnten, dann hat es auch mit ihnen funktioniert.“ Honeggers Bernhard ist ein Frauen anziehendes Monstrum, das seinen Harem mit sichtbarem Sadismus manipulierte, ausnützte und brutale Rache übte, wenn es sich verletzt fühlte. Es ist überraschend, dass auch Honegger dem Mythos vom idyllischen Zusammenleben mit dem „Lebensmenschen“, der siebenunddreißig Jahre älteren „Tante“ Hedwig Stavianicek aufsitzt – den spärlichen öffentlich zugänglichen Quellen zufolge war diese Beziehung extrem spannungsgeladen.

Gitta Honegger hat keineswegs eine „Entlarvungsbiographie“ verfasst. Es geht ihr auch nicht darum, Bernhard zu „entschuldigen“, wie das häufig geschieht: die Geschichte vom Kind, das seine Entstehung wahrscheinlich einem „date-raping“ verdankte, dessen Vater es verleugnete und das unglücklicherweise diesem Vater äußerst ähnlich sah, was wieder eine prinzipielle Hostilität der Mutter produzierte, wird erzählt, steht aber nicht zentral. Honegger zeigt uns einen Bernhard, bei dem „Leben“ und „Werk“ untrennbar verschmolzen waren, der gewissermaßen ein lebenslanger „Theatermacher“ im Doppelsinn des Wortes war – einer der auch in seiner Lebensführung „Theater gemacht hat“ – und rekonstruiert die Dramaturgie seiner „performances“, der er alle seine „Mitspieler“ unterworfen hat.

Der Ansatz, dass Bernhard eine theatralische Existenz geführt hätte und dass für „Leben“ und „Literatur“ ähnliche dramaturgische Prinzipien gegolten hätten, hat auch zahlreiche Konsequenzen für Honeggers Lektüre des Werkes. Bernhard wird beispielsweise oft mit der in der österreichischen Tradition verankerten Sprachskepsis assoziiert. Doch wenn alles Geschriebene nicht stimmt, dann bleibt immer noch das Medium der theatralischen Sprache, die den Anspruch auf Authentizität aufgegeben hat. Honegger liest die künstlerische Entwicklung Bernhards als einen seit „Frost“ laufenden und im Spätwerk erfolgreichen Versuch, Prosa theatergemäß zu schreiben.

Die große Bühne dieser „theatralischen“ Existenz war Österreich: Honegger versteht ihre Arbeit als eine kulturgeschichtliche Biographie. Was Bernhard als „Heimat“ erlebte und worauf seine „performances“ reagierten, war extrem ambivalent: die „zweite Schuld“, das Verschweigen der Untaten der Nazi-Zeit, das Bernhard für gravierender hielt als diese selbst, der kulturpolitische Mief der fünfziger Jahre, der Selbstverrat der Sozialdemokratie und der Avantgarde koexistierten mit positiven Figuren wie Paul Wittgenstein oder anschaulich beschriebenen Gestalten aus dem aristokratischen Umfeld Bernhards, über das zwar viel gespottet wurde, das Honegger aber so beschreibt, dass man versteht, was Bernhard an den Leuten interessierte. Doch gerade im „kulturgeschichtlichen“ Bereich erweist sich der „Blick von außen“ gelegentlich als ein oberflächlicher: die Behauptung, der Großvater Johannes Freumbichler sei vor dem Erscheinen der „Philomena Ellenhub“ ein unpublizierter Autor gewesen, ist genauso problematisch, wie die Etikettierung von Klara Zetkin als einer Märtyrerin der Revolution, und wenn uns Honegger Bernhard als den „Ersten“ vorführt, der die schuldbeladene Vergangenheit thematisiert hat, dann ignoriert sie die lange Entwicklung, die es brauchte, bis Bernhard Klartext sprach, und ignoriert vor allem das Werk von Vorgängern wie Brunngraber, Fritsch und Lebert. Vor allem: Gitta Honegger hat „Heldenplatz“ zwar übersetzt, doch wenn sie die Anschuldigungen der verrückten Familie Schuster „Eins zu Eins“ als zutreffende Aussagen über österreichische Befindlichkeiten nimmt, dann hat sie die zahlreichen Distanzierungen von seinen Figuren, die Bernhard in den Text eingebaut hat, konsequent überlesen.

Ein Bestandteil dieser kulturgeschichtlichen Biographie ist auch, dass geklärt wird, wie das von den beteiligten Charakteren her nicht selbstverständliche Arbeitsbündnis zwischen Bernhard und Claus Peymann entstanden ist. Wer sich nur am „Heldenplatz“ und den Tiraden Bernhards gegen Österreich orientiert, übersieht leicht, wie intensiv die Interventionen Bernhards im Deutschland der RAF-Hysterie und der Filbinger-Affäre waren. Der „Deutsche Mittagstisch“ und vor allem „Vor dem Ruhestand“ reagieren auf die Fälle Carstens, Kiesinger, Scheel und vor allem Filbinger und zentrieren bundesrepublikanische Befindlichkeiten, was manche auf Österreich fixierte Interpreten Bernhards ignorieren. Es ist daher nicht sicher, ob das bundesrepublikanische Publikum im Sinne Bernhards handelt, wenn es sich an dem Ausspruch des Professor Schuster begeilt, dass in Österreich immer alles am schlimmsten sei. Bei Honegger finden sich ganz überraschende Deutungen zu Details der „Deutschen Stücke“ Bernhards: Filbinger hat doch tatsächlich einen Text über Rassereinheit und Blutvermischung veröffentlicht und wenn Rudolf im „Ruhestand“ mit seiner Schwester schläft, dann befolgt er gewissermaßen einen Befehl des früheren gnadenlosen Marinerichters und späteren Ministerpräsidenten Filbinger.

Honegger rekonstruiert akribisch, wie sich die Haltung Peymanns zur bundesdeutschen und österreichischen Gesellschaft entwickelte und was – und wie viel – Bernhard ihm dabei geben konnte. Bernhard hat auf seiner österreichischen Bühne zahlreiche Rollen gespielt: den kosmopolitischen Snob, den Dandy, den Landwirt, den potentiellen Selbstmörder. Honegger hält die Rolle des Narren für die wichtigste – der Narr wird vom König bezahlt und hat dennoch das Privileg, ihn ungestraft lächerlich zu machen. In dieser Rolle sieht Honegger auch eine wichtige Grundlage des Arbeitsbündnisses zwischen Bernhard und Claus Peymann: zwei „Narren“ haben gemeinsam Theatergeschichte geschrieben. Bernhard selbst spricht vom „Altersnarren“ und wird oft in die österreichische Tradition des Volkstheaters gestellt – Honegger vergleicht Bernhard mit internationalen „Narren“ und bietet uns neue Vergleichspersonen aus der Populärkultur an: Lenny Bruce, Groucho Marx und Woody Allen.

Gitta Honegger Thomas Bernhard: Was ist das für ein Narr?
Biografie.
München: Propyläen, 2003.
455 S.; geb.; m. Abb.
ISBN 3-549-07168-X.

Rezension vom 26.11.2003

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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