#Roman
#Prosa

Toko

Erwin Uhrmann

// Rezension von Erkan Osmanovic

„Kaum hatten sie die Sträucher passiert,
tauchte die nächste Gruppe Saurier auf“

Dort ein Säbelzahntiger, hier der lange Hals eines Apatosaurus und hinter den Hügeln wartet auch schon der Triceraptos. Hat der österreichische Autor Erwin Uhrmann uns mit Toko etwa den sechsten Teil der Jurassic Park Reihe vorgelegt? Riesenechsen und andere Tiere aus der Urzeit mitten unter uns? Österreich nicht nur die Insel der Seligen, sondern neuerdings auch der Dinosaurier? Toko also der Name eines unerschrockenen Helden, der uns vor der Blutrünstigkeit eines Tyrannosaurus beschützt?

Nunja, ganz so ist es dann doch nicht. Zwar ist Toko nicht nur der Titel von Erwin Uhrmanns neuen Roman, sondern auch der Name eines Abenteurers. Doch der kommt ganz ohne Waffen oder ähnliches aus. Denn unser Toko stellt sich als Vierbeiner heraus, der auf der Flucht vor seiner Besitzerin Daniela das Kaff Irrlitz unsicher macht.

Irrlitz? Ja, Irrlitz! Eine Ortschaft in der österreichischen Provinz: Nebst Gasthaus lädt die Perle des Waldviertels Irrlitz, Sie, werte Reisende zu einem Besuch in den Dinosaurierpark ein. So oder so ähnlich könnte wohl eine Kurzbeschreibung im örtlichen Fremdenführer klingen. Doch den wird man nur schwer finden, denn Irrlitz gibt es nicht, es ist ein fiktiver Ort im realen Waldviertel.

Erich, der als Literaturwissenschaftler und Experte für Weltuntergangsszenarien bald einen Lehrauftrag in Bath antreten wird und zu den Auswirkungen des Küstenschwunds in England forschen soll, will sich vor seinem neuen Projekt noch im Ferienhaus seiner Freunde Paul und Linda zurückziehen. Dreimal darf man raten, wo sich dieses Haus befindet – Bingo!

„Das Ortsschild von Irrlitz tauchte so rasch auf, wie die Fasane hinter ihm abgetaucht waren. Kein Licht in den Häusern neben der Straße. Ein gelbes Transparent kündigte einen Holzfällerball an, daneben standen Tröge, die im Sommer das Schild mit Blumendekor einfassten und jetzt im Winter leer waren. Nichts von all dem kam ihm in der Dunkelheit bekannt vor. Er fuhr an Häusern vorbei, an die er sich aus seinen Sommern mit Paul nicht mehr erinnern konnte. Irrlitz war in seiner Erinnerung ein grell von der Sonne beschienener Ort mit Wegen, die weg von den Häusern sofort in den kühlen Wald und auf hügelige Wiesen führten, die, durchschritt man sie, die Beine zum Jucken brachten wegen der vielen Insekten, Gräser und Blüten.“

Doch zum Forschen, geschweige denn Ausruhen kommt Erich nicht, stattdessen lernt er Daniela und Irrlitz immer besser kennen. Er erfährt sogar, dass Daniela Tokos Nichte ist. Verwandt mit einem Hund? Weit gefehlt! Denn Toko ist auch der Name von Danielas Onkel. Und der wiederum ist der Besitzer des Dinosaurierparks. Von ihm selbst fehlt aber jede Spur. Wo er abgeblieben ist? Nicht bekannt. So etwas wie eine letzte Spur? Fehlanzeige. Einige glauben, er habe nur seine aktuelle Fernreise ausgedehnt, wiederum andere munkeln, er sei bereits verstorben. Doch wie heißt es so schön? Totgesagte leben länger. Und so erfährt man bei der Lektüre des Romans nicht nur mehr über Erich, Daniela und die Requisiten des Saurierparks, sondern auch über Toko (den Onkel!), obwohl er nur indirekt in Erscheinung tritt und vor allem in den und durch die Erzählungen anderer lebt.

Einst aufgebrochen die Welt zu bereisen, kehrte Toko – eigentlich Theodor – aufgrund einer Bitte seines Bruders nach Irrlitz zurück, um diesem unter die Arme zu greifen. Auf den ersten folgte bald auch der zweite und schließlich viele weitere Besuche. Die Nachfrage nach den handwerklich-begabten Händen Tokos tat das Übrige, um den „verlorenen Irrlitzer“ wieder an seine Heimat zu binden:

„Es war November und er musste nach Ostafrika, wo er mit einem Freund für einen Millionär eine Segelyacht zu überstellen hatte. Als der Auftrag erledigt war, kehrte er zurück nach Irrlitz und blieb den Sommer über. Der Abenteuerspielplatz warf einen kleinen Gewinn ab. Toko aber schwebte etwas Neues und Großes vor. Er zeigte seinem Bruder die Skizzen von den Knochen und schlug ihm vor, einen Saurier zu bauen. Ihm waren solche Spielplätze auf seinen Reisen untergekommen. Ein Jahr später stellten sie den ersten Saurier auf.“

Uhrmann setzt geschickt auf die Fremdcharakterisierung seiner Figuren. Während Toko durch die anfängliche Erwähnung seiner Abwesenheit noch als egozentrischer Abenteurer erscheinen mag, lassen die Rückblicke dieses Bild abbröckeln.

Damit steht Toko nicht allein da. Auch Erich zeigt viele Facetten seines Selbst erst in Rückschauen. Als verkopfter Städter in Irrlitz gestrandet, kommen ihm in einem Gespräch mit Daniela Bilder an ein Fest von Linda und Paul hoch, die eine andere Seite Erichs zeigen. Auf der Feier hatte er beobachtet, wie Linda Paul mit einem anderen Mann betrogen hatte:

„Dass er mit Paul nicht darüber reden könnte, stand für ihn außer Frage. Er fragte sich damals, ob Linda ihn vielleicht sogar gesehen hatte. Bildete sich im Gespräch mit dem Ligurier plötzlich ein, dass sie das sogar beabsichtigt hatte. Er fand Linda an diesem Abend aufregend, war erregt in ihrer Gegenwart, wofür er sich gleichzeitig genierte, vor ihr und Paul und sich selbst.“

Vor sich selbst und ihren Wünschen scheint sich auch Daniela Schirm zu grämen. Obwohl sie zu Beginn der Handlung erklärt, ihre Mitarbeit im Dinosaurierpark wäre bloß der Tatsache geschuldet, dass ihr Onkel verschwunden sei, zeigt sich immer mehr, dass ihr Herz sehr wohl auch am Park hängt. So lehnt sie ein mögliches Kaufangebot ab, obwohl sie um die unsichere Zukunft des Saurierparks weiß:

„Während sie sprach, nahm sie eine lange, spitze Heckenschere aus dem Wagen. Trotz ihrer blassen Erscheinung war sie kräftig. Sie hielt die riesige Schere in einer Hand, während sie mit der anderen auf den Ruüksitz griff und eine prall gefüllte Tasche heraushob, gerade so, also wäre nur Watte darin. ‚Die, die kommen, sind interessiert. Ich meine, es kommen Sammler, Leute, die Fotos machen und auf Instagram veröffentlichen. Einmal ist ein junges Paar gekommen, das ein Date hatte, und er hat ihr einen Heiratsantrag gemacht. Gute Besucher, aber weniger, immer, immer weniger.'“

Neben Rückblicken strukturieren auch offene Fragen den Roman: Tritt Erich seine Stelle in Bath an? Kann Daniela den desolaten Zustand des Saurierparks in Ordnung bringen? Kommt Toko zurück nach Irrlitz? Uhrmann gelingt es mit seinem souveränen Tonfall, diese Fragen geschickt in die Handlung einzuflechten. Genauso wie die (Wahl)Irrlitzer schwanken, so oszilliert man auch als LeserIn zwischen Vergangenheit und Zukunft. Dazwischen nur die Kurznachrichten, die auf Erichs Handy aufscheinen und einen daran erinnern, dass man sich in der Gegenwart befindet. Und obwohl sich die Lebenswege von Erich, Daniela und Toko nur partiell überschneiden, eint sie doch eines: Sie irren nach vorne. Ihre Zukunft ist vielleicht ungewiss, doch das Lesevergnügen unbestreitbar.

Toko.
Roman.
Innsbruck: Limbus Verlag, 2019.
224 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-99039-139-6.

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Verlagsseite mit Informationen über Buch und Autor

Rezension vom 08.01.2020

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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