Die drei Freund:innen Billy aus Berlin sowie Ava und Conrad aus Wien gehen nach der Annexion Österreichs durch das nationalsozialistische Deutschland im Jahr 1938 ins Exil nach Paris, treffen sich, nachdem Frankreich im Juni 1940 vor der Wehrmacht kapitulierte, in Marseille und gelangen von dort, teils zu Fuß, über die Pyrenäen in die portugiesische Hauptstadt, wo sich inzwischen viele ihrer Bekannten befinden: „Vom Schicksal Verdroschene, allesamt.“ (S. 116)
Einige dieser „vom Schicksal Verdroschenen“ sind an reale Personen angelehnt; kaum mit der Geschichte des Exils aus Österreich Vertraute werden in der Figur des Edmund Ödon von Horvath erkennen, besser eingelesene werden Ava Blom als Schauspielerin und spätere Schriftstellerin Hertha Pauli, Conrad als Juristen Carl Frucht und Billy Friedländer als Schriftsteller Walter Mehring identifizieren. Andere „berühmte Flüchtlinge“, wie Joseph Roth oder Alma Mahler-Werfel, treten nur kurz auf und werden unter ihren echten Namen geführt.
Auf dem Romancover zeigt ein Foto drei Männer und zwei Frauen im Freien an Kaffeehaustischen (?) bzw. auf einer Mauer sitzend. Die Frauen haben ihre Beine auf der Mauer abgelegt, der Rock derjenigen im Vordergrund ist sehr weit hinaufgeschoben und zeigt ihre Beine fast bis zum Ansatz des Oberschenkels. Dieses Bild aus den 1940er Jahren illustriert einerseits das von großen Teilen der sehr konservativen portugiesischen Gesellschaft als freizügig empfundene Verhalten der Flüchtlinge – während bürgerliche Portugiesinnen nicht ohne Hut, Handschuhe, Strümpfe und Anstandsbegleitung das Haus verlassen sollten, verzichteten die weiblichen Flüchtlinge auf diese Accessoires, trugen kurze Röcke und sogar (auch kurze) Hosen, gingen alleine durch die Stadt und in Kaffeehäuser und rauchten in der Öffentlichkeit. Andererseits zeigt dieses Foto auch das Warten: Die Personen auf dem Bild sind, bis auf die Frau im Vordergrund, die etwas in der Hand hält, was ein Stickrahmen sein könnte, untätig, ihre Körperhaltung ist entspannt. „Das Warten, jeden Tag mit der Ungewissheit zu leben, und sich einzureden, nicht zu warten, weil man will, dass man aufhört zu warten, und viel stärker noch hofft, nicht umsonst gewartet zu haben“ schreibt Ava in ihr Journal (S. 175).
Sabine Scholl führt ihre Leser:innen nicht nur ins Portugal der späten 1930er und frühen 1940er, in Rückblicken erzählt sich auch von Avas und Billys Leben vor dem Exil im bürgerlichen Döbling bzw. im Berlin der Zwischenkriegszeit. Anschaulich schildert sie das bange Warten und den Teufelskreis aus fehlenden Schiffsplätzen und ablaufenden Visa, in dem sich die Flüchtlinge befinden (S. 53), sowie die Korruption in Portugal (S. 83).
Scholl zeigt auch, wie unterschiedlich ihre drei Protagonist:innen mit der Situation umgehen: Conrad engagiert sich in der Flüchtlingshilfe und begegnet der Ungewissheit mit Aktivität – so wie auch seine spätere Freundin Lou, eine Nebenfigur, die das Schneiderhandwerk in Vorbereitung auf die Flucht erlernt hat und trotz des Arbeitsverbots in Lissabon in einer Werkstatt arbeitet. Billy hat resigniert und verhält sich dem neuen Ort gegenüber auf allen Linien ablehnend, sogar das viel gelobte Essen findet er grässlich (S. 117). Er trauert seinem früheren Leben nach und kann sich nicht mit seinem Schicksal abfinden. „Vielleicht sollten wir nicht länger auf ein Schiff warten, das uns weiterbringt. Vielleicht ist Portugal das Schiff, das uns bereits trägt.“ (S. 206) sagt Ava einmal zu Billy. Sie lässt sich mit allen Sinnen ein auf die neue Heimat auf Zeit, inklusive lokalem Liebhaber und einem Besuch im Marienheiligtum Fátima – und nein, das ist nicht kitschig!
Ein schöner Kunstgriff ist, dass Billy sich an die zurückgelassene Bibliothek seines Elternhauses erinnert (Walter Mehring widmete derjenigen seiner Eltern den Band Die verlorene Bibliothek). Sabine Scholl lässt mit Zitaten von Barockdichtern wie Andreas Gryphius und Paul Fleming und vor allem aber mit viel Lyrik aus der deutschen Romantik – Droste-Hülshoff, Brentano, Novalis, Rückert – eine bildungsbürgerliche Bibliothek der Zwischenkriegszeit erstehen. Das Memorieren der Textpassagen scheint dem geworfenen Billy Halt in unsicheren Zeiten zu geben.
Die Autorin bringt jedoch nicht nur Flüchtlinge ins Bild: Eine wichtige Rolle gehört der Französin Chantal, die, unter anderem bei den Handarbeitskränzchen der Ehefrauen deutscher Botschaftsangehöriger, für die Alliierten spioniert – Portugal war im Zweiten Weltkrieg neutral und Lissabon die Welthauptstadt der Spionage. Auch ein portugiesischer Dissident, ein Widerstandskämpfer gegen das Salazar-Regime, bekommt einen kleinen Auftritt – es darf nicht vergessen werden, dass Portugal damals und bis 1974 eine Diktatur war, in der das Recht auf freie Rede und die Versammlungsfreiheit nicht existierte.
Dass Sabine Scholl selbst in Portugal gelebt hat, merkt man an ihrer kenntnisreichen Schilderung des Landes und seiner Besonderheiten; ihre intensive Recherche für das Buch bildet sich im Quellenverzeichnis ab, das über vier Seiten geht. Man erfährt viel über Land und Leute, z. B. über die heute noch wichtige armenischstämmige Familie Gulbenkian (S. 96-98) – hier in der Rolle als Kriegsgewinnler, über die subalterne gesellschaftliche Stellung von Frauen (z. B. S. 186-189), die Nazis in Lissabon (z. B. S. 71, 73, 123-125), das Leben der gutsituierten Flüchtlinge im mondänen Estoril (S. 94-96).
Die Gedichtzitate in Billys Erinnerung sind nicht das einzige Beispiel für Intertextualität: Durch den ganzen Roman ziehen sich Verweise auf die Odyssee und auf die Argonautika des Apollonius von Rhodos, die von den Protagonist:innen gelesen und zitiert werden. Auch Texte von Exilautor:innen wie Kurt Weill, Hilde Spiel und Günther Anders kommen vor, und natürlich Gedichte von Walter Mehring. Sabine Scholl arbeitet in ihrem Roman mit unterschiedlichen Textsorten – neben Erzählpassagen sind immer wieder Stellen aus den Memoiren der Spionin Chantal und dem Journal von Ava eingestreut. Nicht nur dadurch wechselt die Erzählperspektive ständig, es steht auch immer wieder jemand anderes im Fokus der auktorialen Erzähler:in – Ava, Billy, Conrad oder Lou.
Die Sprache im Roman changiert zwischen alten Austriazismen wie „Hundling“ (S. 30) und gegenwärtigen Wendungen und Wörtern wie „Ende Gelände“ und „Kippe“ (für Zigarette), welche die Rezensentin als störend empfand. Sätze wie „Licht fiel durch ein Oberlicht herein“ (S. 130) hätte ein genaueres Lektorat/ Korrektorat verhindert .
Schon in früheren Werken sowie in einer Gesprächsreihe in der Alten Schmiede in Wien hat sich Sabine Scholl mit verschiedenen Methoden beschäftigt, Geschichte in Literatur zu verwandeln, und 2021 zu diesem Thema den Essayband Lebendiges erinnern. Wie Geschichte in Literatur verwandelt wird (Sonderzahl) verfasst. Mit Transit Lissabon gelingt es ihr eindringlich, zu beschreiben, wie es für Ava, Billy und Conrad gewesen sein könnte, und so einen Eindruck vom brüchigen Flüchtlingsleben im Transitland Portugal zu geben.
Katrin Sippel studierte Geschichte, Spanisch, interdisziplinäre Kommunikation und Lateinamerikanistik in Wien, Klagenfurt und Granada. Sie lebt als Historikerin und Übersetzerin in Wien und ist Generalsekretärin der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung. Publikationen zu jüdischem Leben in Wien vor und nach 1938, Österreicher:innen in der französischen Résistance und vor allem zu Flüchtlingen in Portugal. zuletzt: Lisbon: The Weltstadt years? The influence of female Jewish refugees on the Portuguese capital during the Second World War. In: Mobile Culture Studies. the Journal (2023) H. 8. Jewish Migrations and their Effect on Modern Urban Cultures, pp. 35-32.