#Lyrik

Tropen

Raoul Schrott

// Rezension von Klaus Kastberger

Über das Erhabene.

Der neue Lyrikband von Raoul Schrott versammelt Gedichte aus dem Zeitraum von 1993 bis 1998 und ist mit vielerlei theoretischem Beiwerk, mit „Inventarien“, Marginalien und Glossen versehen. Der Titel Tropen läßt nicht nur an die ethnographischen Untersuchungen von Claude-Lévi Strauss („Traurige Tropen“), sondern besonders an das Hauptwerk des österreichischen Expressionisten Robert Müller denken. „Tropen. Der Mythos der Reise“ hatte Müller seinen 1915 erschienenen Roman – wie er selbst schreibt – aus einer „Spitzfindigkeit“ heraus genannt. Nämlich deshalb, weil es sich bei dieser Bezeichnung nicht allein um einen geographischen, sondern auch um einen rhetorischen Begriff handelt. Als Tropen werden die Figuren der uneigentlichen Redeweise bezeichnet.

Schrott macht sich – ohne die Quelle zu nennen – den alten expressionistischen Trick zu eigen und bringt die Doppeldeutigkeit des Wortes Tropen zu poetologischer Evidenz. „Niemand weiß, was ein Gedicht ist“, hat der bekannte Schweizer Literaturwissenschafter Peter von Matt nach eingehender Analyse unzähliger Gedichtbeispiele in seinem jüngsten Buch („Die verdächtige Pracht“) festgestellt. Nun, da hat Matt wohl seine Rechnung ohne Raoul Schrott gemacht, der ganz genau weiß, was ein Gedicht ist: So wie der Äquator die Erde umfaßt das Gedicht die Natur, im „Raster seiner Tropen“ entwirft es – wie es tirolerisch-apodiktisch heißt – die „Topographie des Erhabenen“.

Die poetische Erhabenheit des Raoul Schrott ist nicht theoretisch vermittelt wie bei Adorno oder bei Lyotard; diese Tiroler Erhabenheit ist tatsächlich noch von erster Natur. So liegen in einem Abschnitt des Buches, der sich „Gebirgsfront 1916-1918“ nennt und sich mit der Isonzofront des Ersten Weltkriegs beschäftigt, die Eingeweide der Berge brach, obwohl es sich dabei eigentlich um die Eingeweide von Menschen handelt. In dem Gedicht „Passo Paradiso“ liest man folgende Zeilen: „lebende fackeln / die der morgen in brand setzt / so sehen die toten aus / wenn sie aus dem gletscher kommen / muskeln / eingetrocknet am knochen / dann steh ich auf / und küß dich auf den zerschossenen mund“ (S. 203).

Die erhabensten Panoramen schafft unter Einsatz allen verfügbaren Menschenmaterials immer noch der Krieg. Auf diesem Gebiet feiert die Ästhetik des Schreckens von Ernst Jünger bis hin zum Soldaten Ryan aus der Werkstatt Steven Spielbergs ihre Triumphe, und auf diesem prekären Boden wird es auch bei Schrott unheimlich unterhaltsam. In anderen Teilen der Tropen gerät die Besteigung von Bergen zu einer vergleichsweise faden Angelegenheit. Wenn Schrott beispielsweise in einer Serie von Gedichten („Eine Geschichte der Berge“) Hannibal gemeinsam mit gezählten 37 Elefanten auf den Mont Cenis, Petrarca auf den Mont Ventoux und Dante auf den Prato al Saglio folgt und zum Schluß im Alleingang gar noch den Graukogel und die Wildspitze bezwingt. Für die, die es vergessen haben, sind bei den jeweiligen Gedichten auch die entsprechenden Eckdaten notiert: herbst 218 v. chr., 26.4.1336, winter 1311, 26.2.98., 13.2.98.

Was die Moderne an der ästhetischen Verstiegenheit schätzt, ist nicht zuletzt die Fallhöhe, die das Erhabene vom Komischen trennt. Es ist eine Wegstrecke der Ironie, die der Dichter im Sturz von ganz oben nach ganz unten durchmißt. Ein solcher Fall will sich in Schrotts Welt einfach nicht ereignen. Die Tropen sind damit als ein spezielles Schutzgebiet ausgewiesen, zu dem die moderne Ästhetik keinen Zugang hat. Wahrscheinlich macht aber gerade das den Erfolg des Dichters aus.

Raoul Schrott Tropen
Lyrikband.
München, Wien: Hanser, 1998.
213 S.; geb.
ISBN 3-446-19502-5.

Rezension vom 20.10.1998

Originalbeitrag. Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich. Sie geben nicht notwendig die Meinung der Redaktion wieder.

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