Judith W. Taschler, die bereits einige erfolgreiche Romane vorgelegt hat, weiß, wie sie die Leser bei der Stange hält. In ihrem Roman Über Carl reden wir morgen erzählt sie die Geschichte der Familie Brugger von 1828 bis 1922, über drei Generation hinweg. Taschlers gut geölte Erzählmaschinerie verliert sich an keiner Stelle in historischen Details, sondern vermittelt glaubwürdige und lebenssatte Schicksale. Ihre Helden, also die Familie Brugger, sind keine Kinder von Traurigkeit und packen das Leben in der Regel energisch an. So überwindet auch Rosa ihre Trauer, nachdem ihr Bruder Anton, der inzwischen die Mühle des Vaters übernommen hat, Witwer geworden ist und sie bittet, zurückzukehren. Rosa folgt seinem Wunsch, kümmert sich um die Kinder des Bruders und bringt das Haus auf Vordermann. Was in Wien „vorgefallen“ ist, verschweigt sie der Familie.
In der nächsten Generation gibt es schon wieder ein erotisches Geheimnis um eine Frau. Antons einziger Sohn Albert hat zwölf Jahre in der k.-u.-k.-Marine gedient und ist dabei weit herumgekommen. Zurück im Mühlviertel eröffnet er ein florierendes Geschäft – mit Kondomen aus Schafsdarm. Was seine zukünftige Frau angeht, hat der bislang ledig Gebliebene ganz präzise Vorstellungen: Nicht zu dünn soll sie sein, in höheren Jahren aber auch nicht allzu dick werden. Im Rekordtempo holt er sich das Jawort der hübschen Wienerin Anna – und staunt nicht schlecht, wie leicht das Herz der Städterin doch zu erobern war. Der Leser weiß wiederum mehr. Anna hat ein Geheimnis, das jenes von Rosa an Pikanterie sogar noch übertrifft. Das Mädchen ist aus Sicht des damaligen Heiratsmarktes nämlich beschädigte Ware. Sie wurde inflagranti beim Cunnilingus mit einer Gräfin erwischt. Zunächst liegt der Schaden ganz auf Seiten der bürgerlichen Anna, doch als eine Zeitungskarikatur mit entsprechend großer Ähnlichkeit auftaucht, verlässt die Gräfin eiligst die Stadt. Anna, die sich ihrer sexuellen Orientierung nicht ganz sicher ist, sendet ihr Liebesbriefe hinterher. Allerdings hat die Gräfin nur noch Verachtung für sie übrig, weil sie nun heiratet. Doch auch Anna findet sich bald ein in ihr Schicksal und ins Mühlviertel mit seinen sanften Hügeln.
Ein paar Jahre nach Rosas Tod taucht plötzlich der angeblich erschossene Theo im Mühlviertel auf, gezeichnet vom Leben als Kleinkrimineller, im Schlepptau seine Tochter Hedwig. Theo stirbt und Hedwig, die bei der Familie auf dem Land bleibt, lernt den armen Emil kennen. Ihre geplante Emigration in die USA scheitert. Das Schicksal ist den beiden nicht gewogen. Albert und Anna haben vier Kinder. Die beiden ältesten sind die Zwillingssöhne Carl und Eugen, die sich bis aufs Haar ähneln und einander für lange Zeit aus den Augen verlieren. Carl dient im Ersten Weltkrieg an der Front, erleidet eine schwere Verletzung. Der tüchtige Eugen baut in Massachusetts erfolgreich ein großes Holzunternehmen auf. Nach zehn Jahren kehrt er zurück und bleibt dann in Österreich … Warum, soll hier nicht verraten werden.
Taschlers Roman gibt einen Querschnitt durch die Schichten der damaligen Gesellschaft, vom armen Tagelöhner bis zum privilegierten Adeligen. Auch das Gefälle zwischen der wohlhabenderen Stadt und der Armut auf dem Land wird deutlich. Eine Frühform der Globalisierung wird sichtbar: Nicht nur durch die Auswanderung(sversuche) von Familienmitgliedern, sondern auch durch den internationalen Handel mit den Kolonien und die exotischen Reisen des Marineangehörigen Albert, der in Indien Witwenverbrennungen und auf Sansibar einen Frauenmarkt gesehen hat. Dabei erlaubt sich Taschler eine gewisse Ironie, wenn sie ihre Protagonisten darüber räsonieren lässt, wie glücklich doch die österreichischen Frauen im Gegensatz zu denen in fernen Ländern seien. Über Carl reden wir morgen ist mit allen Wassern der modernen Seh- und Lesegewohnheiten gewaschen. Und so abrupt, wie der Roman endet, könnte man gar meinen, dass ein zweiter Teil einer Serie geplant ist. Aber darüber reden wir morgen.