Was den Band besonders interessant macht, ist einerseits eine Gegenüberstellung der Gegensätze und andererseits ein Deutlichmachen verschiedener Kontinuitäten. Gerade in den ersten Jahren nach 1945 schieden sich die Geister in ihren Österreich-Betrachtungen. Während etwa Max Mell, Bruno Brehm und viele andere die Opfer-Rolle des Landes betonten und ihre betont „unpolitische“ Verklärung des Landes doch unweigerlich an Blut und Boden denken lässt, regte etwa Alexander Lernet-Holenia an, auf andere Weise an die Vorkriegstraditionen anzuknüpfen, an kulturelle Werte und eine Kaffeehausgemütlichkeit, der wohl heute noch viele nachtrauern – mit oder ohne Nostalgiewellen, die in regelmäßigen Abständen (nicht nur) Österreich überschwemmen.
Der Herausgeber Gerald Leitner lässt keinen Zweifel daran – und weist auch im Vorwort darauf hin – dass bei der Auswahl der Texte nicht immer ihre literarische Qualität im Vordergrund stand: manche Beiträge haben den einzigen Vorzug, eine bestimmte Geisteshaltung zu repräsentieren, die jeweils für eine gewisse Periode der österreichischen Geschichte charakteristisch war. Dass verschiedene Versuche und Modelle von Vergangenheitsbewältigung in den meisten Beiträgen eine große Rolle spielen, versteht sich von selbst. Und die Zusammenstellung ist äußerst vielseitig.
Konservativen Texten (vor allem aus der Nachkriegszeit) stehen Beiträge von Ilse Aichinger, H. C. Artmann, Friedrich Achleitner, Erich Fried, Gerhard Fritsch u.a. gegenüber, die allesamt einen „Aufruf zum Mißtrauen“ darstellen, wie Aichinger programmatisch festhält. Besonders eindrucksvoll in diesem Zusammenhang ist die Gegenüberstellung (die Texte finden sich tatsächlich auf zwei gegenüberliegenden Seiten) von Max Mells reichlich kitschigem Machwerk „Heimat“ und Herta Staubs düsterem Gedicht „Donau 1945“, einer Ruhe nach dem Sturm, in der Trauer und Trostlosigkeit erst so richtig an die Bewusstseinsoberfläche gelangen können.
Naturgemäß wenig erbaulich auch die beiden Kapitel „Niemalsland“ und „Die Lufthoheit über den Stammtischen“, in denen u. a. Ingeborg Bachmann, Felix Pollak, Hans Lebert, Ernst Jandl, Gerhard Rühm oder Peter Turrini einer Österreich doch weit verbreitete Tendenz nachgehen: einer eigenartige Mischung von Vergessen bzw. Verdrängen und einer Pflege von Traditionen, die mit humanistischen Werten schwer in Einklang zu bringen sind. Der homo austriacus präsentiert sich hier nicht gerade im vorteilhaftesten Licht.
Und doch steuert der Leser in einem sehr weichen Übergang auf den Hauptteil der Anthologie zu, in dem „Aus diesen Tagen: In Liebe, Österreich“ Gegenwartsautoren sich (teilweise in Originalbeiträgen) Gedanken machen über die Entwicklung des Landes. Und nicht nur schwarz malen, und vor Übertreibungen warnen, und ebenso zur Achtsamkeit aufrufen. Auch heute sind sich die Schriftsteller (Elfriede Jelinek, Gerhard Roth, Robert Menasse, Antonio Fian, Marlene Streeruwitz etc.) keineswegs einig in der Bewertung der „Lage der Nation“. Auch wenn sie alle, jeder für sich, ihre Opposition zu den derzeit regierenden Parteien verkünden, mehr oder weniger radikal, mehr oder weniger logisch oder emotional begründet, mit mehr oder weniger nachvollziehbaren Argumenten. Die Diskrepanzen in der Beurteilung des jüngsten Kapitels österreichischer Geschichte zeigen deutlich die Komplexität des Themas. Tatsächlich, über Österreich zu schreiben ist schwer.